Grazoutside

Wie schmeckt Herkunft?

Foto: Alexander Krischner www.flickr.com/photos/daalex/6533952937

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Wie schmeckt das, wo ich herkomme? Wie schmeckt zu Hause, wenn man sich nicht einfach mit der Aufzählung von ein paar Lieblingsspeisen zufriedengeben will?

Besonders deutlich wird einem das, wenn man nicht mehr zu Hause lebt. Es heißt, dass Einwanderer eher die Sprache ihres Herkunftslandes vergessen als die Küche. Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besessen haben, sagt Fontane. Man ist nicht einfach nur abgeschnitten von der Versorgung mit Verhackert und Punschkrapferl und an einen fernen, zerbrechlich dünnen Seitenarm der Kernölpipeline verbannt. Es ist ein Ganzes, das fehlt, eine Welt; und wie sie schmeckt, das ist ihr Kuss – Gerüche und Geschmäcker sind voller Nähe und Intimität.

Die ganze Daseinsform des Daheimseins, die man bemerkenswerter Weise überallhin mitnehmen kann, ist durchdrungen von etwas, das man kosten, anschmecken, probieren kann, auch wenn es nichts ist, das man isst oder trinkt – die weichere Luft im Süden zum Beispiel, die anderen Grüntöne der Flora von einem anderen Licht, überhaupt die Übergänge vom einen zum anderen, die nicht hart sind und wie die Berge am Stadtrand von Graz verlaufen.

Etwas von dieser rätselhaften Vielfalt versuchen die Franzosen mit dem Begriff Terroir einzufangen – ein komplexes Zusammenspiel von Boden, Gestein und Bewuchs, Temperatur und Niederschlag, von Sonneneinstrahlung, Hangneigung, Bodenrelief, der Zusammensetzung und der Feuchtigkeit der Erde. Aber wie es sich für eine Sinfonie der Sinnesberührungen gehört, die uns heimatlich umfasst, fehlt immer etwas bei den Versuchen, sie unter einer umfassenden Idee zu versammeln – im Fall des Terroirs etwa fehlt die Stadt. Und es fehlt die Innenwelt.

Es geht ums Feine. Foto: Alena Schmuck

Es geht ums Feine. Foto: Alena Schmuck

Es ist eine kleine Unendlichkeit an Fakten, die den Charakter der Herkunft bestimmen. Ein Fließen und Kristallisieren von Feinheiten, beim Wein kann man sie Weinheiten nennen. Zu Hause kann auch ganz einfach sein. Meine Großmutter konnte nicht kochen. Als Kind ist mir das nicht aufgefallen, denn immer, wenn ich bei den Großeltern in der Triesterstraße war, gab es Buttererdäpfel mit Salz, für mich heute noch eine Köstlichkeit. Ich bin in dem Geschmack zu Hause, der wurzelt in dieser Stadt und der Vergangenheit, und in dem Salzgeschmack, der kühl an der Zungenspitze brennt, zusammen mit der Butter, die an den warmen Erdäpfeln schmilzt, und an deren Weichheit. Diese ganz persönliche Art der Herkunft ist portabel. Es ist die freundliche Version von Heimat, die einen auch in die Welt hinaus entlässt, wenn man möchte, und nicht festhält.

Einmal, als meine Mutter mich in Hamburg besucht hat, wollte sie für mich etwas zubereiten, das schmeckt wie zu Hause: Liptauer. Dieser Brotaufstrich aus den historischen Tiefen der österreichisch-ungarischen Küche, und das weiß meine Mutter natürlich, gehört für mich zum Kaliber des Buttererdäpfelhaften, wobei in ihrer Zubereitung anstelle des Brimsen, eines Schafsmilchfrischkäses, Topfen zum Einsatz kommt.

Es war eine gute Gegend, in der ich wohnte in Hamburg, also besorgten wir in einem Feinkostgeschäft die nötigen Zutaten. Unterschiedliche Bezeichnungen wie Quark statt Topfen sah ich als Synonyme, aber das sollte sich als Irrtum erweisen. Der rote Paprika war kein edelsüßer Rosenpaprika, das Salz nicht aus Bad Ischl, die Gewürzgurken keine Essiggurkerl, und auch das Mineralwasser, das Mama beimischt, um den Topfen so leicht und schaumig zu machen, wie man sich in der Quantentheorie die Grundstruktur der Raumzeit vorstellt, ist von anderer Provenienz, Mineralhaltigkeit und damit Geschmacksanmutung als die Wässer weiter im Süden. Der Liptauer, den meine Mutter zubereitete, sah aus wie ein Liptauer, aber er schmeckte wie etwas vollkommen anderes. Es geht nicht um die richtigen Zutaten.

Es geht ums Feine.

Text: Peter Glaser

Peter Glaser wurde 1957 in Graz geboren und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er bloggt für die Neue Zürcher Zeitung (http://glaserei.blog.nzz.ch) und befasst sich als Journalist mit der digitalen Welt. Für seine Erzählung “Geschichte von Nichts” wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

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