Grazoutside

Das Problem mit der Tüte

„Die Gräzer sind ein gutes, geselliges, jovialisches Völkchen; sie sprechen im Durchschnitt etwas besser Deutsch als die Wiener.“ (Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802)

Foto: Marianne Perdomo, https://www.flickr.com/photos/marianneperdomo/329309286/

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„Kann es sein, dass es das Wort ,Streichholzbriefchen‘ in Österreich nicht gibt?“, schrieb ich der Literaturredakteurin im Studio Steiermark auf eine Anmerkung hin, die sie zu einer Geschichte von mir hatte, in der ich einen Spaziergang durch die japanische Stadt Nagoya beschrieb. „Hier in Deutschland ist es ein gängiger Begriff und passt an der Stelle auch ganz genau für den Größenvergleich.“

Um diesen Satz ging es: „Auf dem Weg zu dem Institutsgebäude sah ich, in die Erde einer Baumscheibe auf dem Gehsteig gesteckt, kleine Holztäfelchen, kaum größer als Streichholzbriefchen. Es war ein Friedhof für Kanarienvögel.“ Ich bin nun schon so lange in Deutschland, über drei Jahrzehnte, dass ich bei manchen Worten nicht einmal mehr weiß, ob sie auch in Österreich gebräuchlich sind.

„Wie bitte?“

Ende der Siebzigerjahre bin ich aus Graz nach Düsseldorf umgezogen, und in dem Haus, in dem ich wohnte, war im Erdgeschoß ein Tabakladen („Trafik” gibt es hier nicht). Als ich das erste Mal Streichhölzer kaufen wollte – so die offizielle Bezeichnung-, habe ich, wie von zu Haus gewohnt, eine Schachtel Zünder verlangt. Wie ich inzwischen weiß, kennt man in Deutschland das Wort Zünder als Kurzform für Zündhölzer nicht. Der Begriff wird ausschließlich für Munitions-Zünder, Bomben-Zünder verwendet. Es war, als ich nach den Zündern fragte, das Jahr 1978, das sollte ich vielleicht noch dazusagen. Das Jahr nach dem „deutschen Herbst“, also nach dem Mord an Hanns-Martin Schleyer, der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ nach Mogadischu und dem Selbstmord der RAF-Gefangenen in Stuttgart-Stammheim. Zünder. Der Mann in dem Tabakladen fragte nach: „Wie bitte?“ An den skeptischen Blick erinnere ich mich gut.

Diesem „Wie bitte?“ sollte ich, in weniger brisanten Formen, in der Folge noch oft begegnen. Im Alltag zeigte sich in einer erstaunlichen Fülle, welche Unterschiede die Sprache, die man leichtfertig als gemeinsames Deutsch bezeichnet, in Österreich und in Deutschland bereithält. Deutsche Supermärkte sind voll mit Waren, für die ich Bezeichnungen hatte (und habe), die ein „Wie bitte?“ auslösen, und es sind nicht nur die gängigen sogenannten Austriazismen wie Paradeiser, Häuptelsalat, Karfiol, Marillen oder Kukuruz. Mit dem Deka vulgo Dekagramm, also der zehn Gramm entsprechenden Einheit, fehlt an der Wurst- und Käsetheke eine ganze Gewichtsklasse, wobei Österreichern vor allem beim Schnittkäse auffällt, dass der deutsche Käsescheiblierer die einzelnen Scheiben standardmäßig dicker anlegt. Natürlich kann man darum bitten, den Käse dünner geschnitten zu bekommen, ganz dünn; aber man muss erst darum bitten.

Dazu kommt das Zeichensystem der Markenartikel, das mit persönlichen und kollektiven Erinnerungen verknüpft ist. Der Geruch von Semperit-Luftmatratzen im Sommer im Schwimmbad. Das Kracherl in der Gipfelhütte als Belohnung für eine erfolgreiche Bergwanderung. Wenn derlei an dem Ort, an dem man also lebt, nicht bekannt ist, fehlt nicht einfach nur ein Ding, sondern eine Referenz auf etwas Weitergehendes. Nach den neuen Begriffen – Salzstangen statt Soletti, Tesa statt Tixo – musste ich dann in einer weiteren Anstrengung den Erinnerungswert der neuen Realitäten einzuschätzen und zuzuordnen lernen, und zwar ohne mich selbst daran erinnern zu können, die Eispause nach der Langnese-Werbung im Kino etwa, die in Österreich nicht üblich und deshalb kein Teil meiner Kindheitserinnerung ist.

Manche bekannten Dinge wurden auf unerwartete Weise sprachfremd. Die Zahnpasta („Zahncreme“) Colgate wird in Österreich so wie im Englischen ausgesprochen, während man das Wort in Deutschland eingedeutscht spricht. Vielleicht erklärt sich die Neigung nach dem Englischen hin – genau genommen: nach dem Amerikanischen – aus einem tiefsitzenden österreichischen Minderwertigkeitsgefühl und dem Bedürfnis, sich an etwas Großem anzulehnen. Das tun auf nüchterne Weise auch Menschen, die etwas im gesamten deutschen Sprachraum verkaufen möchten, das ohne Eingriff regional beschränkt bliebe. Von Peter Alexanders Hit „Das kleine Beisl“ aus dem Jahr 1976 gibt es eine an den deutschen Markt angepasste Version mit dem Titel „Die kleine Kneipe“ (die übrigens vor der österreichischen Version auf den Markt kam). Auch von Wolfgang Ambros Nummer-Eins-Hit „Zwickt‘s mi“ gibt es zwei sprachraumspezifische Fassungen, hier die Einstiege zum Vergleich:

Gestern fohr i mit der Tramway Richtung Favoriten.

Draußen regnts und drinnen stinkts, und i steh in der Mitt’n.“

„Und wieder fahr i mit der U-Bahn von der Arbeit z‘Haus

Draussen regnet‘s, innen stinkt‘s und i halt‘s fast net aus.“

Die Tüte: eine der größten Herausforderungen für Österreicher in Deutschland

Aus Gründen, die mir selbst nicht ganz klar sind, gehört für einen Österreicher, der in Deutschland einen Einkauf tätigt, Tüte zu den am schwierigsten auszusprechenden Wörtern. Da ist zum einen diese explizite, spitzlippig entschiedene Art, die beiden t um das ü herum zu artikulieren, die den Österreicher erschreckt oder ihm Spielraum nimmt. Dass das t in Österreich sicherheitshalber „hartes t“ genannt wird, um besser vom „weichen d“ unterscheidbar zu sein, wirft ein Licht auf den Nuschelgrad, könnte man sagen, man kann aber auch sagen: auf die weichen Übergänge zwischen den lautlichen Möglichkeiten.

In manchem unterscheiden die Deutschen sprachlich genauer. So nutzt der Österreicher den Unterschied zwischen Sessel und Stuhl nicht, man sitzt generell auf Sesseln, der Stuhl bleibt der medizinischen Diagnostik vorbehalten. Bedeutend risikoreicher ist die fehlende Unterscheidung zwischen Fuß und Bein. In Österreich ist alles von der Hüfte abwärts Fuß. Wenn ein Österreicher in Deutschland also Schmerzen im Oberschenkel verspürt, wird er sagen, dass ihm der Fuß wehtut, was zu fatalen Missverständnissen führen kann.

Sprachliche Grenzen: „Das würde hier niemand sagen“

Eine geradezu überwältigende Vielfalt an individuellen Benamungen offenbart sich hingegen bei den Mehlspeisen. Dieser Sprachsektor erinnert an die Legende von den 100 verschiedenen Bezeichnungen für Schnee, die Eskimos angeblich kennen. Der amerikanische Ethnologe Franz Boas, auf den die Geschichte zurückgeht, hatte in seinen Aufzeichnungen im Jahr 1911 allerdings nur vier unterschiedliche Begriffe genannt, die sich dann im Lauf der Zeit in den Medien auf wunderbare Weise auf das Fünfundzwanzigfache vermehrt haben.

Nebenbei gesagt, bildet sich in Österreich auch die Neigung zum Übertreiben in einer professionellen Freundlichkeit ab, wie man sie anderswo im deutschsprachigen Raum nicht findet, nämlich der formlosen Verleihung von Titeln durch die Oberkellnerschaft im Kaffeehaus, beginnend mit „Herr Doktor“, wenn man das Etablissement als gänzlich Fremder betritt, über zeitlos renommierliche Anreden wie „Herr Direktor“ bis hin zu tatsächlichen Titulaturen, die im Unterschied zu den höflichkeitsakademischen Graden durch Mimik, Körpersprache und Stimmunterton fein, aber unmissverständlich als schwerwiegende Angelegenheiten erkennbar gemacht werden. Das diesbezüglich Distinguierte hat eine lange Tradition, man denke nur an den vom Titular-Hofrat sorgsam unterschiedenen Wirklichen Hofrat.

Das Eldorado der feinen Unterscheidungen aber findet sich im Bereich des Beklagens. Nirgendwo ist der Österreicher so differenziert wie bei den verbalen Fraktalen, mit denen man in die Unendlichkeit des zu Bedauernden, Fürchterlichen, ganz Schlimmen, Scheußlichen, Grauslichen, Allerniederschmetterndsten, Bejammernswerten etc. pp. einzutauchen vermag, und mit nirgendwo sonst gekannter Subtilität die verschiedensten Tonlagen der Missfallensbekundung bestreicht, indem man nicht einfach nur meckert und nörgelt, sondern noch sudert, grantelt, matschgert, raunzt undsoweiter undsofort.

Die Differenzen zeigen sich auch in regelrecht mikroskopischen, nahezu unerlernbaren Formen von „Das würde hier niemand sagen“. So berichtet etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Dezember 2012 von einem „Riesenslalom in Semmering“, der Ort heißt ja tatsächlich so, auf den die Weltcup-Abfahrt vom Hirschkogel hinführt, nur dass die Einheimischen (mein Großvater hat in den Zwanzigerjahren im Hotel Panhans gearbeitet) immer „am Semmering“ sagen würden, worin die Geografie in einem weiteren als nur auf den Ort beschränkten Sinn zum Ausdruck kommt.

Und schließlich spürt man auch an bestimmten Dialogformen, dass man nicht mehr zu Hause ist, nämlich, wenn die selbstverständlich erwartete Reaktion oder die kleine Antwort auf einen tischtennisballeicht servierten Schmäh ausbleibt. So gibt es zum Beispiel die im Kaffeehaus oder sonstigem geselligen Beisammensein gepflegte Angewohnheit, angefangene Sätze in den Raum hängen lassen, als Einladung, das offene Ende aufzunehmen und fortzuspinnen, ähnlich wie die Engländer es mit ihrem „isn‘t it?“ machen, das einen ebenfalls freundlich zum Antworten auffordert.

Text: Peter Glaser

Peter Glaser wurde 1957 in Graz geboren und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er bloggt für die Neue Zürcher Zeitung (http://glaserei.blog.nzz.ch) und befasst sich als Journalist mit der digitalen Welt. Für seine Erzählung “Geschichte von Nichts” wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

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