Grazoutside

Information Superheimweh – Teil I: Vier Freunde im globalen Dorf

Meine am weitesten zurückreichende Erinnerung an Reinhard ist, dass er mir eine reinhauen wollte und ich auf eine Pappel neben dem Pfarrheim in Don Bosco flüchte. Wir waren damals bei den Pfadfindern, Gruppe G 10 – „Allzeit bereit”. Mit dem Pfadfindergruß unterschreiben wir noch heute manchmal unsere E-Mails. E-Mail hat unserer Freundschaft eine neue, wunderbare Wendung gegeben. Reinhard hat lange auf den Philippinen gelebt, am Saum der Zivilisation, immerhin führte eine ISDN-Leitung zwischen den Reisfeldern zu ihm. Ich war in Hamburg. Und da waren noch Xao in Düsseldorf und Lugus in Las Vegas, die mit eingecheckt hatten in den Cyberspace. Vier alte Freunde aus Graz, verstreut über drei Kontinente. Die Geschichte beginnt in den frühen Neunzigerjahren. Das Internet nannte man damals auch gern „Information Superhighway“.

Davor kam gelegentlich ein Fax zu Weihnachten oder ein seltener Anruf, ein mühsam zwischen den Zeitzonen hindurchgetunneltes, teures Ferngespräch. Mit E-Mail hatten wir plötzlich wieder die Möglichkeit, Alltäglichkeiten miteinander zu teilen, unabhängig von Tageszeiten und Entfernungen. Ich erfuhr, dass Reinhard auf der Veranda ein kleines Häuschen für seine Katze baute, die er aus Manila mitgebracht hatte und die sich vor den Geräuschen des Dschungels fürchtete. Wegen einer solchen Kleinigkeit hätte keiner von uns einen Brief geschrieben und drei, vier Wochen dreingegeben, bis er vielleicht angekommen war. Sie wäre verlorengegangen, und mir ihr die Gegenwart der Freundschaft. Mit E-Mail war die Welt wieder voller Details. Freundschaft ist eine Kunst der Entfernung, so wie die Liebe eine Kunst der Nähe ist.

 

Kaffeetasse vs. "Mug" - ein Zeichen von Lebensqualität. Foto: msomm, https://www.flickr.com/photos/novgorod/6679549433/

Kaffeetasse vs. „Mug“ – ein Zeichen von Lebensqualität. Foto: msomm, https://www.flickr.com/photos/novgorod/6679549433/

Computer: so ungewöhnlich wie ein Antischwerkraftgenerator

Erfunden wurde die E-Mail 1972 von einem stillen amerikanischen Ingenieur namens Ray Tomlinson. Bereits 1976 verschickte Königin Elizabeth die erste E-Mail von England aus über den Atlantik. Es gibt Leute, die behaupten, dass Großbritannien nur deshalb ein Weltreich wurde, weil das englische Essen so schlecht ist und die Söhne deshalb in alle Welt auszogen, um zu sehen, ob es nicht irgendwo etwas Besseres gibt. Wir Grazer gehen los, weil uns nach anderem hungert.

Lugus gehörte zu einer Handvoll Zuhörer, die von Laurie Anderson bezaubert wurden, als sie 1979 in Graz „Night Flight” aufführte, eine berückende Performance mit Bildern von Herbstlaub und den Klängen einer leuchtenden Geige, die mit einem mit Tonbandstreifen bespannten Bogen gespielt wurde. Kein Schwein kannte Laurie Anderson (die zwei Jahre später mit „O Superman“ einen Welthit landete). Lugus folgte dem Zauber nach New York. Dort suchten sie im legendären „Kitchen Studio“ gerade einen Soundmann. Durch solche Zufälle verändern sich Lebenswege.

Ich hatte damals, ein anderer Zufall, schon einen Computer. Für eine Privatperson war das  so ungewöhnlich wie ein Antischwerkraftgenerator. Musiktechnik war für uns zuvor immer der Einstieg ins Technologische gewesen. Als designierter Schriftsteller beneidete ich die Musiker um ihre beeindruckenden Maschinen, mit denen man auch ordentlich Lärm machen konnte. Ich hatte eine elektrische Schreibmaschine, die pat pat pat machte. Versuchen Sie mal, mit so was vor 50.000 Leuten aufzutreten und Eindruck zu machen.

In Deutschland wird man, auch wenn man erst 20 ist, ernst genommen, das ist das Wunderbare an der deutschen Humorlosigkeit. Xao und ich ließen uns in einem Heizungskeller in Düsseldorf nieder, ich im Westflügel. Zu dieser Zeit setzte gleichzeitig mit dem ersten Bartwuchs in jedem jungen Mann der unbezähmbare Wunsch ein, einen KORG-Synthesizer und ein Vierspurtonbandgerät zu besitzen. Xao hatte beides. Lugus schickte ab und zu Tonbandbriefe, mit denen er sich unglaubliche Mühe gab. Er komponierte kleine Lieder dafür („New York is‘ oag!“) und erzählte Geschichten voller Heimweh und Abenteuerlust.

Foto: Soupmeister, https://www.flickr.com/photos/soupmeister/5236374048/

Foto: Soupmeister, https://www.flickr.com/photos/soupmeister/5236374048/

Kollektives Erinnern

Auch daran erinnern wir uns, wenn wir einander heute ganz selbstverständlich E-Mails auf den Bildschirm beamen. Durch den schnellen Austausch, den E-Mail erlaubt, gewann das Erinnern eine besondere Qualität – es wurde kollektiv. Jedem fielen Teile ein, welche die anderen bereits vergessen hatten oder noch nicht wussten. So wurde die grazgemeinsame Vergangenheit runder, voller, auf eine kostbare Art mehr, ohne gleich verklärt zu werden. Das Netz hat uns das Gefühl einer gemeinsamen Gegenwart zurückgegeben. Und dadurch, dass wir über verschiedene Kontinente verstreut waren, hatte jeder von uns ganz persönliche Korrespondenten zur Verfügung, die ihn aus erster Hand über die örtliche Weltwirklichkeit informierten.

Irgendwann war mir aufgefallen, dass ich keine Kaffeebecher mehr mag. Seither trinke ich meinen Kaffee, jedenfalls zu Hause, wieder aus Tassen. Keine eingetrockneten Kaffeekreise mehr auf dem Tisch von der Unterseite dieser untertassenlosen Becher. Und kein kalter Kaffee mehr. Kaffeebecher, befand auch Xao per Mail, sind ein Stück kultureller Niedergang. Es gibt einen natürlichen Rhythmus, wann man einen Schluck Kaffee nimmt und wie lange man dann etwas anderes macht, ehe man wieder antrinkt. Seinen Kaffee zu schnell zu trinken, ist unösterreichisch, darin geht selbstverständlich auch Lugus konform. Das ist eine Frage der Lebensqualität. Wer seinen Kaffee zu langsam trinkt, ist wahrscheinlich Programmierer oder Konzertveranstalter, das heißt, er codiert oder telefoniert zu viel, Folge: kalter Kaffee. In einem Kaffeebecher bleibt IMMER kalter Kaffee übrig. Er ist prinzipiell zu groß. Er hat nicht das richtige Maß.

In einer Reihe von E-Mails haben wir erforscht, wie sich der Kaffeebecher genauso über die ganze Erde ausgebreitet hat wie das Internet. Der „mug”, wie er in der englischen Bürosprache heißt, gehört inzwischen zur Basis-Büroeinrichtung in aller Welt; überall diese kleinen, dreckigen Küchen, und jeder darf immer nur seinen eigenen mug benutzen. Unsere zusammengetragenen Reisebereichte ergaben, dass sich Tassen nur in Ländern mit ausgeprägter Heißgetränkekultur (Österreich: Kaffee, England und China: Tee) einigermaßen retten konnten. Weltweit jedoch hat der mug gesiegt. Es ist so ähnlich wie mit Google. Reinhard, der damals eine Firma in Hongkong führte, erzählte in einer Mail die Geschichte des Bechers, der gerade vor ihm stand: “Draufgedruckt ist: BERND – Der Berühmte. Ich bekam ihn von einer meiner ManagerInnen in Hongkong zum Geburtstag. Warum BERND? Weil’s so DEUTSCH aussah für sie. Sie spricht nur Mandarin und Englisch…“

Text: Peter Glaser

Peter Glaser wurde 1957 in Graz geboren und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er bloggt für die Neue Zürcher Zeitung (http://glaserei.blog.nzz.ch) und befasst sich als Journalist mit der digitalen Welt. Für seine Erzählung “Geschichte von Nichts” wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

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