Grazoutside

Die patriotische Nacht

Es war am letzten Tag des Jahres, in dem Richard Nixon zurückgetreten war, Muhammad Ali George Foreman K.O. geschlagen und in Graz die erste internationale Fachtagung zur Erforschung der Blasmusik stattgefunden hatte. Die Nummer 1 in der österreichischen Hitparade war „Sing My Song“ von Waterloo & Robinson, von Freunden damals liebevoll Wasserklo & Drahtbürschtl genannt. Ich war Gitarrist einer Band mit dem vielsagenden Namen Corpus Delirium, und wir hatten uns zu einer Silvesterparty im Gasthaus Moswitzer in Eggenberg unweit der Endstation der Straßenbahnlinie 1 verabredet.

Charly, der Sohn des Gasthauses, stellte die Ressourcen zur Verfügung, die zum Betrieb einer solchen Band nötig sind. Der auf dem Dachboden eines Anbaus befindliche Proberaum diente eigentlich der Einlagerung von Eierbriketts. Eine schmale, steile Treppe führte dort hinauf, und ab und zu rutschte jemand beim Runtergehen auf einem Eierbrikett aus, was dazu führte, dass er als erstes ruckartig aus dem Blickfeld verschwand, als hätte sich eine Falltür unter ihm aufgetan, und dann in einer scharfen Kurve, in der die Treppe sich nach links wandte, mit der Wand kollidierte. Abgemildert wurden die Stürze dadurch, dass jemand weitsichtig dafür gesorgt hatte, dass die Klopapiervorräte für das Gasthaus stets in dieser Kurve eingelagert wurden.

Die Band war auch insofern merkwürdig, als dass wir mit zwei Gitarristen – ich einer davon – und zwei Schlagzeugern besetzt waren, Sänger hatten wir keinen. Das mit den zwei Schlagzeugern kam daher, dass Charly einen gewissen Gurkerl kannte, der zwar nicht Schlagzeugspielen konnte, aber ein Schlagzeug besaß und wir Herbert hatten, der ein fantastischer Drummer war, aber ohne Drums. Mario, der andere Gitarrist, und ich mußten also immer so lange mit Gurkerl spielen, bis er die Lust verlor und Herbert sich ans Schlagzeug setzen und wir zu proben beginnen konnte. Na egal, jedenfalls war da diese Silversterparty und wir vertrieben uns die Zeit bis Mitternacht mit Gesellschaftsspielen wie etwa: Man setzt einen Motorradhelm auf und rennt damit gegen die Wandschräge im Proberaum und fällt um, dann ist der nächste dran.

Foto: Martin Wippel https://www.flickr.com/photos/martin_julia/7329382794

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Einer der Partygäste hatte mir angeboten, dass ich bei ihm übernachten könne. Er wohnte nicht weit von dem Gasthaus entfernt und wurde bald nach Mitternacht müde und wollte vorausgehen, ich solle ein Steinchen an das Fenster seines Untermietzimmers werfen, er würde mir dann aufmachen. Er war ziemlich betrunken. Wir feierten noch ein, zwei Stunden weiter und dann machte ich mich auf den Weg. Es war ein Doppelhaus im Anstieg an den Berghang am Stadtrand, und ich sah, dass das Fenster, an das ich Steinchen werfen sollte, offen stand. Ich versuchte es erst mit rufen, und zwar wie man das in einer solchen Situation tut, möglichst leise und möglichst laut zugleich. Es war kalt und still. Ich warf ein Steinchen, das in dem dunklen Zimmer auf etwas aus Holz traf, dann noch eines, das kaum zu hören war. Ich warf ein größeres Steinchen, das auf etwas aus Glas oder Porzellan traf und es zerstörte. Stille.

Dann ging ich um das Haus herum und fand im Garten des Nachbarhauses eine Leiter, und während ich mit der Leiter nach vorne unterwegs war, kamen die Besitzer der Leiter nach Hause. Was ich da mit der Leiter machen würde. Ich muß da hinauf, sagte ich und zeigte auf das dunkle, offene Fenster, und die beiden sagten, ich solle die Leiter wieder hinbringen, wo ich sie herhabe oder sie würden die Polizei rufen. Also brachte ich die Leiter zurück und ging wieder hinunter zum Gasthaus, aber da war niemand mehr. Es war still und kalt, und ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Rohbau einer Kegelbahn und ein winziges Fensterloch in der Ziegelwand, noch ohne Rahmen und Fenster. Ich war damals sehr schlank, aber ich passte trotzdem fast nicht durch, und als ich drin war, hatte ich links und rechts ziegelrote Streifen auf meiner weissen Jacke. Ich sah aus wie eine wandernde, kälteblasse Version der österreichischen Fahne.

In der designierten Kegelbahn stand ein altes Sofa, auf dem ein paar verwelkte Vorhänge lagen, also legte ich mich auf das Sofa und deckte mich mit den Vorhängen zu, aber es war zu kalt. Nach einer halben Stunde wand ich mich durch das Loch wieder nach draußen, wo es sich genauso anfühlte wie drin in der Kegelbahn. Ich erkundete die Gegend. Da war eine Gartenhütte, sie hatte große Fenster ohne Scheiben, und im Inneren der Hütte stand ein alter Küchentisch, über den eine steirische Fahne gebreitet war, eine große, grünweiß, wie sie an Flaggenmasten hängen. Trotz der Kälte war das Terpentin zu riechen, mit dem die Fahne offenbar gerade gereinigt wurde. Dann legte ich mich auf den Küchentisch und rollte mich in die Fahne. Man konnte durch das offene Fenster auf die Stadt sehen, das Feuerwerk war längst verloschen und manchmal waren noch die trotzigen Knaller derer zu hören, die nicht einsehen wollten, dass es vorbei war. Dann war es wieder still und kalt.

Von dem Fahnenstoff war mehr vorhanden als von dem Vorhangstoff in der Kegelbahn und er war auch dichter, aber mir wurde nicht warm. Trotzdem blieb ich liegen, nur um mich später einmal daran erinnern zu können, wie ich in die steirische Fahne eingewickelt auf einem Küchentisch lag und über Graz schaute. Dann ließ ich die Fahne wieder auf dem Tisch zurück und ging nach Eggenberg hinunter, ich ließ mir Zeit dabei, bis zu der Siedlung, von der ich wusste, dass Herbert da wohnt. Herbert wohnte noch bei seinen Eltern und es war klar, dass ich die nicht rot-weiss-rot gestreift um fünf Uhr früh am Neujahrstag aus dem Bett klingeln konnte. Also ging ich spazieren, es wurde mir dabei zumindest nicht kälter. Gegen acht traute ich mich, mich bemerkbar zu machen und wurde freundlich aufgenommen, ich bekam ein Frühstück, durfte ein heißes Bad nehmen und mich in Herberts Zimmer schlafen legen. Das war meine patriotische Nacht in Graz.

Peter GlaserText: Peter Glaser

Peter Glaser wurde 1957 in Graz geboren und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er bloggt für die Neue Zürcher Zeitung (http://glaserei.blog.nzz.ch) und befasst sich als Journalist mit der digitalen Welt. Für seine Erzählung “Geschichte von Nichts” wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

 

 

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