Friedrich Schmiedl und die Grazer Raketen
Das Suchen hat sich im Netz inzwischen zur zentralen Funktion entwickelt, aber es gibt auch eine bemerkenswerte Art, Dinge zu finden, die man gar nicht gesucht hat. Das Englische kennt ein Wort dafür: Serendipity – eine Anspielung auf das persische Märchen The Three Princes of Serendip (Serendip ist eine alte persische Bezeichnung für Ceylon, das heutige Sri Lanka). Drei Prinzen auf Reisen machen darin jede Menge unerwartete Entdeckungen.
So stieß ich vor ein paar Jahren beim Stöbern auf Ebay auf Ausgaben einer Zeitschrift namens „Archiv für Deutsche Postgeschichte“. Der Anbieter hatte die Inhaltsverzeichnisse abgetippt und in einer Ausgabe aus meinem Geburtsjahr 1957 war ein Artikel über die Erfindung der Postrakete verzeichnet. Ich interessiere mich für Raketen und kaufte das Heft. Postrakete. Eigenartig.
Mein Interesse an Raketen ist gewissermaßen angeboren. Ich bin genauso alt wie die Raumfahrt. 1957 schossen die Sowjets den ersten Sputnik in den Orbit und mit dem nachfolgenden Wettrennen um die Eroberung des Weltraums erfasste mich auch die zugehörige Technikbegeisterung. Ich fühlte mich aufgerufen, an dieser Eroberung teilzunehmen und versuchte, im Garten meines Elternhauses in Straßgang von einem gusseisernen Christbaumfuß als Startrampe aus einen mit selbstgemischtem Schwarzpulver gefüllten Glaskolben aus meinem Chemielabor im Keller in eine Erdumlaufbahn zu entsenden, handelte mir zum Glück aber nicht viel mehr als den Zorn einer Nachbarin ein, die Wäsche zum Trocknen aufgehängt hatte, welche nun mit Schwefeldampf eingenebelt war.
Als nach der ersten Mondlandung die Ära der Space Shuttles begann, kühlte mein Interesse aus und ich setzte die Reise in neue Räume in die sich gerade eröffnenden Areale des Online-Universums hinein fort. Ich war aus Graz nach Hamburg umgezogen, wo sich in meinem Wohnzimmer jeden Donnerstag der Chaos Computer Club einfand. Mit dem Computer und der Datenfernübertragung – wie das Onlinesein damals noch etwas umständlich genannt wurde – kam auch die Technikbegeisterung wieder. Und nachdem ich 2004 eingeladen wurde, auf dem Chaos Communication Congress in Berlin die Eröffnungsrede zu halten, wollte ich ihr einmal auf den Grund gehen.
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In Berlin-Reinickendorf wurde 1930 von dem Diplom-Ingenieur und Feuerwerksfabrikanten Rudolf Nebel der erste Raketenflugplatz der Welt gegründet. Betrieben wurde er von den Mitgliedern des privaten „Vereins für Raumschifffahrt“, darunter der Gymnasialprofessor Herrman Oberth, der 1923 seine Dissertation „Die Rakete zu den Planetenräumen“ erfolgreich als Buch veröffentlicht hatte, der Südtiroler Max Valier, der an alles, was fahrbar war, Pulverraketen anmontierte, und der 20-jährige Student Wernher von Braun, Sohn des ehemaligen Reichsernährungsministers, der schon als Junge einen Polizeieinsatz ausgelöst hatte, nachdem ein Spielzeugauto, auf dem er eine Rakete befestigt hatte, durch den Tiergarten und in die Röcke einer spazierengehenden Dame gerast war. Je mehr ich über den Verein für Raumschifffahrt in Erfahrung brachte, desto stärker traten die Ähnlichkeiten zum Chaos Computer Club hervor – die Bastlermentalität, der Erfindungsgeist, der Enthusiasmus, der sich an einer neuen Technik entzündet. Ich sah mich in den Raketenfreunden auf gespenstische Weise selbst.
Anfang der Dreißigerjahre begann sich das Heereswaffenamt für Raketen zu interessieren. Die Reichswehr suchte nach Möglichkeiten der Wiederbewaffnung, mit denen sich die Beschränkungen der Versailler Verträge aus dem 1. Weltkrieg umgehen ließen. Artillerie-Aufrüstung war den Deutschen verboten, aber von Raketen stand nichts in den Verträgen – als sie abgefasst wurden, gab es die Technik noch gar nicht. Die Raketenfreunde – nicht alle, allen voran aber Wernher von Braun -, ließen sich auf einen faustischen Pakt mit den Nationalsozialisten ein. Rudolf Nebel war gegen die Zusammenarbeit mit dem Militär, konnte sich aber nicht durchsetzen.
Der Rest ist Geschichte. Von Braun wurde Leiter der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, in der zur Hochzeit 15.000 Ingenieure und Techniker an einer Rakete arbeiteten, die schließlich Aggregat-4 hieß und von Propagandaminister Göbbels in V2 umbenannt wurde – Vergeltungswaffe 2. Bei der Massenproduktion der V2, die nach einem Bombenangriff auf Peenemünde im unterirdischen Konzentrationslager Mittelbau-Dora bei Nordhausen stattfand, starben bis Kriegsende über 10.000 Zwangsarbeiter. Damit war die V2 die erste Waffe, bei deren Bau mehr Menschen ums Leben kamen als durch ihren Einsatz.
„Die Wissenschaft hat keine moralische Dimension“, versuchte sich von Braun später herauszureden. „Sie ist wie ein Messer. Wenn man es einem Chirurgen und einem Mörder gibt, gebraucht es jeder auf seine Weise.“ Das war die Stimme eines neuen Menschentyps, den das 20. Jahrhundert hervorgebracht hatte – des Technokraten, der technischen mit moralischem Fortschritt gleichsetzte.
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Am 2. Februar 1931 startete der Chemiker und Bauingenieur Friedrich Schmiedl, der aus Niederösterreich kommend sich nach seinem Studium an der Technischen Universität in Graz niedergelassen hatte, die erste Versuchs-Postrakete mit 102 Poststücken in 1.500 Metern Höhe vom Schöckl aus nach St. Radegund; im Lauf seines Lebens sollten es mehr als 3.300 Postschüsse, Kleinraketen und Raketenversuche werden.
An einem bunten Fallschirm, damit der Transport einfacher wiederzufinden war, ging die Ladung nieder. Mit von der Partie waren der Zeitungsreporter Karl Weihs und seine Gattin Hela. Schmiedls Postraketen machten weltweit Schlagzeilen, die New York Times und sogar chinesische Zeitungen berichteten darüber. Den Testflügen lag die Idee zugrunde, dass mit der Rakete einst Post in schwer zugängliche Bergdürfer, entlegene Täler oder vielleicht sogar auf andere Kontinente befördert werden könnte. Schmiedl hatte auch Raumfahrtpläne, die allerdings in der Presse unerwähnt blieben. „Die Erde ist dem Menschen zu klein geworden. Und zu bekannt“, schreibt er, „nun muss er seinen Weg hinaus wagen: hinaus in‘s All. Fort will er. Fort muss er!“ Und: „Weltraumfahrt – ist eine wissenschaftliche Angelegenheit, die alle Menschen angeht.“
Für seine Raketenversuche richtete er Lager für Treibstoff und Einzelteile in der alten Schöckl-Halterhütte und im Stubenberghaus, in einem verlassenen Bergwerksstollen und im Haus und dem Heustadel der Hebamme Katharina Zingl ein, die dort oben wohnt. Spätere Starts wurden immer auch von einigen japanische Studenten beobachtet, die davon ihrer Botschaft Bericht erstatteten – was dazu führte, dass Schmiedl 1932 von der japanischen Regierung einen Fünfjahresvertrag als Raketenforscher angeboten bekam. Da er befürchtete, seine Raketen könnten für militärische Zwecke verwendet werden, lehnte er – anders als Wernher von Braun in Berlin – das lukrative Angebot ab.
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Da die österreichische Post das Monopol auf die Postzustellung hielt, wäre eine Postraketen-Linie vorerst ohnehin undenkbar gewesen. Um sich die kostenintensive Entwicklungsarbeit zu finanzieren, verkaufte Schmiedl eigene Vignetten und mitbeförderte Poststücke an Briefmarkensammler. Auf dem Spezialgebiet der sogenannten Aerophilatelie werden Raketenpostbriefe noch heute hoch gehandelt.
Neben Messungen, Material- und Formtests fanden immer wieder erweiterte Experimente Platz in den Raketenflügen, etwa im September 1931 „R 1, erste offizielle Postrakete! Insekten an Bord“ (alle Versuchstiere haben überlebt). 1932 gibt es mit der Versuchsrakete V 11 einen „Nachtflug bei Sturm!“ und mit der Postrakete V 13 die erste „Rakete mit Antwort-Rakete (Reply mail!)“. Postrakete V 15 transportiert im Jahr 1933 prominent „Zuleitungspost für das Luftschiff GRAF ZEPPELIN!“ – Und im Dezember 1935 wird mit „N 6“ von der Kanzel nach Gösting die erste Rakete mit Flüssigtreibstoff verschossen, die Triebwerksvariante der Zukunft.
Erhalten in der verdienstvoll detaillierten, aber nur schwer zugänglichen Schmiedl-Biografie von Karl Trobas („Raketen – Raketenpost, Postraketen“) ist auch ein Ablehnungsschreiben vom 6.2.1932 von Franz Öhler (Kastner & Öhler), der am Reinerkogel eine Villa bewohnte – „lehne ich Ihren Vorschlag, im Garten meiner Villa ein Raketenflugzug steigen zu lassen, ab [was auf einem Missverständnis beruhte]. Indem ich Ihren Versuchen besten Erfolg wünsche verbleibe ich – Franz Öhler.“
– Um Fälschungen und Nachdrucke seiner Raketenflugpost-Vignetten zu verhindern, hat Schmiedl sich einiges einfallen lassen. Es gab eigene Gummierung und Zähnung, Fluoreszenz und sogar eine Spritzlösung mit Pilzsporen. Im Januar 1934 kam mit der Notverordnung der Generalpostdirektion zum Schutze der Österreichischen Postwertzeichen das Aus für die bescheidenen Einnahmen aus dem Verkauf seiner Raketenflugpost-Vignetten. 1935 fanden die vorerst letzten Raketenstarts statt.
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Nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland zerstörte Schmiedl sein Raketenlabor mit allen Messinstrumenten, Prüfgeräten und einer neuentwickelten Fernsteuerung für die Flugkörper. Er vernichtete fast alle seine Zeichnungen, Pläne, Entwürfe und Fotos, um zu verhindern, dass seine Raketen für Kriegszwecke eingesetzt werden. Er wird beim Heeresbauamt angestellt und als Zivilangestellter der deutschen Wehrmacht als Bauleiter auf Großbaustellen in Graz eingesetzt. Dann lernt er Jenny Stolleck kennen, die beiden heiraten im Februar 1949. Am 6.3. wird vom heimischen Grundstück in Kroisbach aus eine Hochzeitsrakete gestartet.
Am 11. September 1994 stirbt der Raketenpionier Friedrich Schmiedl im Alter von 92 Jahren in Graz und hinterlässt der Stadt ein Millionenvermögen, das in eine Stiftung fließt, die seinen Namen trägt.
Schon in den Zwanzigerjahren hat Schmiedl eine Anzahl von „Foto-Raketen“ entwickelt und gestartet, die, mit von ihm selbst errechneten und gebauten „Raketen-Minikameras“ ausgerüstet, mit automatischem Auslöser aus großen Höhen Landschafts- und auch wissenschaftliche Aufnahmen machen können. Als 16-jähriger konstruierte er den ersten Raketenhubschrauber der Welt. Heute – in einer Zeit, in der Versandhändler wie Amazon und Logistikriesen wie DHL mit Lieferdrohnen experimentieren und Kamera-Quadkopter jedem Hobbyisten Luftaufnahmen in höchster Bildauflösung liefern – erscheinen die Pionierleistungen des Grazer Raketenkonstrukteurs Friedrich Schmiedl in einem neuen Licht.
Ende Juni 2014 sah sich die TU Braunschweig veranlasst, sich mit einem Blumenstrauß bei dem Besitzer eines Wohnhauses zu entschuldigen, nachdem das Gebäude irrtümlich von einer von Studenten der TU abgeschossenen Experimentalrakete getroffen worden war. Bei Schmiedl in Graz hätte es das nicht gegeben.
Text: Peter Glaser, Bilder: Zeitungsmeldungen und Briefumschläge aus den 1930er Jahren gesammelt von Peter Glaser
Peter Glaser wurde 1957 in Graz geboren und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er bloggt für die Neue Zürcher Zeitung (http://glaserei.blog.nzz.ch) und befasst sich als Journalist mit der digitalen Welt. Für seine Erzählung “Geschichte von Nichts” wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.
Weitere Essays von Peter Glaser:
Ein schwarzer, eiserner Auslandsgrazer
Information Superheimweh – Teil I: Vier Freunde im globalen Dorf
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