Grazoutside

Portrait: Peter Glaser

Ich bin 1957 in Graz geboren, in Straßgang aufgewachsen, genauer gesagt: in Neuhart, im Vorfeld von Schloss St. Martin. Im Gymnasium habe ich ein Jahr vor der Matura beschlossen, Arbeiter zu werden. Ich wollte damals schon Künstler werden, im Übergang zum Schriftsteller allerdings erst einmal Musiker. Wobei das vielleicht zu hoch gegriffen ist, ich habe damals Liedertexte geschrieben, erst auf Englisch, dann auf Deutsch. Schriftsteller war für mich damals eine Untermenge von „Arbeiter“. Notgedrungen, aber auch aus Neugierde habe ich diese Jobs gemacht, die später Schriftstellerbiografien schmücken: Tankwart, Zirkusarbeiter, Vermessungsgehilfe, Briefträger, Fließbandarbeiter, bis hin zum Arbeiter in der Papierfabrik Leykam. Für einen angehenden Schriftsteller war das sehr lehrreich. Ich kenne den Papierproduktionsprozess vom umgesägten Baum in der Fabrik bis hin zum Buch respektive bis zur Zigarettenschachtel in der Großdruckerei. Wie jeder junge Mann in den Siebzigerjahren wollte ich Gitarrist werden, jedenfalls Musiker, aber ich hatte Glück, weil ich früh genug bemerkt habe, dass mein Talent nicht ausreicht. Ich wäre wahrscheinlich ein passabler Interpret geworden, der fremde Stücke nachspielen kann, aber ich habe bemerkt, dass mir das richtige Ausdrucksvermögen fehlt. Ich habe dann gesehen, dass das Schreiben die Richtung ist, die mir gelingt.

Gerade in dem Bereich in dem ich tätig bin, dem Schreiben, gibt es in Graz ein Phänomen, das etliche aus meiner Generation aus der Stadt vertrieben hat, man kann daran aber niemandem die Schuld geben. Es hat damit zu tun, dass Graz relativ klein ist und über eine ungewöhnlich große Menge an Schriftstellerinnen und Schriftstellern verfügt. In Graz selbst kann deshalb nur jede zweite oder jede dritte Generation zum Zug kommen. Die Generation vor uns war außerordentlich erfolgreich. Das waren die Leute, die das Forum Stadtpark gegründet haben und jetzt die Granden der österreichischen Literatur waren oder sind. Ich habe verschiedene Anläufe unternommen, die man als kleiner Dichter eben unternimmt, um irgendwo zu lesen oder zu veröffentlichen, und es war ein Ding der Unmöglichkeit. In Graz, einer im Grunde sehr konservativen Stadt, wird einem dieses Gefühl entgegengebracht, wenn man sagt, dass man Künstler werden möchte: Mach dir keine Sorgen, es ist heilbar. Lern erst was Gescheites, dann kannst du immer noch Künstler werden, der Onkel Heinerl war auch bei der Eisenbahnerblasmusik.

Peter Glaser in den 1960er Jahren in Graz - "Der Leser"

Peter Glaser in den 1960er Jahren in Graz – „Der Leser“

In Graz eine Existenz als Autor zu gründen, war vollkommen aussichtslos, und etwas anderes wollte ich aber nicht machen. Den „Sterz“ gab es zwar schon, aber das war neu und ohnehin war künstlerische Tätigkeit, auch in den hochangesehenen „manuskripten“, stets für Ehre und Vaterland. Geld gab es dafür keines, jedenfalls nicht für die Autoren. Alles war sehr monolithisch. Es gab einen einzigen österreichischen Verlag, den Residenz-Verlag in Salzburg, der österreichische Gegenwartsliteratur veröffentlicht hat. Dort gab es einen Lektor, Jochen Jung, der quasi darüber entschieden hat, was österreichische Gegenwartsliteratur ist. Er hat das natürlich nach bestem Wissen und Gewissen gemacht. Aber es ist gewissermaßen auch sehr Grazerisch gewesen, dass sich alles auf einige wenige Personen konzentriert hat.

Es war dann so, dass ich immer wieder am Arbeitsamt gelandet bin und immer wieder Sachen gemacht habe, die mit dem Schreiben nichts zu tun hatten. Die ich als Erfahrungen nicht missen möchte, aber die mir verdeutlicht haben, was ich den Rest meines Lebens nicht machen möchte, etwa mit Gehörschutz jeden Tag neben einer Papiermaschine herumzustehen. Auf der anderen Seite war da aber diese vollkommene Perspektivlosigkeit, vom Schreiben leben zu können.

Nachdem ich immer gern in Graz war und gute Freunde habe, bin ich nicht von alleine auf die Idee gekommen, aus Graz wegzugehen. Ich bin von außen angestiftet worden, aber von einem Grazer. Mein bester Freund war mit einer Künstlergruppe nach Düsseldorf emigriert und hat mich eingeladen, und ich war einen Sommer über dort, Ende der Siebzigerjahre. Zurück in Graz, bin ich gleich wieder auf dem Arbeitsamt gelandet, wo ich mir wieder irgendwelche Jobs als Lagerarbeiter eingefangen habe. Da habe ich mir gedacht: Sowas kann ich genausogut in Deutschland machen.

In Düsseldorf bin ich in die Anfänge der Punk-Zeit hineingestolpert, ohne jede Absicht. Das war Underground, wir haben auch passend in einer Kellerwohnung gewohnt, genauer gesagt, einem Heizungskeller. Mein Freund war Musiker, und es war damals sehr untypisch, kein Popstar werden zu wollen. Ich habe mir aber bei den Musikern einen gewissen Respekt erarbeitet, indem ich darauf bestanden habe, kein Musiker mehr werden zu wollen. Sie waren ganz erstaunt, dass da jemand noch vor einer Schreibmaschine sitzt, das war etwas Altertümliches.

Durch ein einen Zufall traf ich auf Lore Schaumann und Rolfrafael Schröer, die gerade das Literaturbüro Nordrhein-Westfalen gegründet hatten. Sie versuchten, schreibende Leute zusammenzubringen und ihnen auch ab und zu Jobs zu vermitteln. Lesungen. Einen Artikel in einer Zeitung. Meine allererste Lesung hatte ich dann gemeinsam mit einem Kollegen in einer gutbürgerlichen Kneipe in Düsseldorf-Bilk. Niklas Stiller und ich haben an diesem Tag beide Motorradfahrergeschichten gelesen, unabgesprochen. Wir haben uns angefreundet und danach zusammen einen Film gemacht. Niklas kannte den NDR-Produzenten Horst Königstein, der gerade eine Fernsehreihe begonnen hatte, „Jetzt kommt die Flut“, das war eine Anspielung auf die Neue Deutsche Welle. Er kannte Niklas und hat ihn gefragt, ob er für die Reihe nicht auch einen Film produzieren mag, und Niklas hat mich gefragt, ob ich mitmache. Der Film hieß „Lastwagenkrieg”, und ursprünglich ging es um Öko-Themen, die mich als Punk aber überhaupt nicht mehr interessiert haben. Niklas hat zugelassen, dass ich ein paar meiner Musikerfreunde mit dazunehme, wir haben den Film dann quasi besetzt. Am Ende ist von dem, was Niklas ursprünglich vorhatte, nur der Titel geblieben; das war aber auch großherzig gewesen von ihm, diesen Pulk Punks zuzulassen. Niklas und ich haben dann aus den vielen übriggebliebenen Ideen ein Buch gemacht: „Der große Hirnriss“.

1979 bin ich endgültig nach Düsseldorf umgezogen, und 1981 habe ich mein erstes Buch veröffentlicht. Als ich mit Niklas nach Hamburg gefahren bin, um bei Rowohlt den Vertrag zu unterschreiben und ich diese Stadt gesehen habe, wußte ich, dass ich nicht in Düsseldorf bleiben werde. Ich war aus Graz, einer kleinen Stadt, nach Düsseldorf gekommen und die Rheinkniebrücke bei Nacht hat mich in der ersten Zeit so begeistert, als wäre es die Golden Gate Bridge. Im Übergang von Düsseldorf nach Hamburg habe ich dann den Unterschied zwischen einer Großstadt und einer Weltstadt erkannt. 1984 bin ich nach Hamburg umgezogen, direkt an die Reeperbahn, so wie ich es wollte, mitten ins Geschehen. Die Literaturszene in Düsseldorf war übersichtlich gewesen, und ohne dass das überheblich klingen soll: Ich habe die Herausforderung gesucht. In Hamburg hatte ich gleich das Gefühl, dass es da niemanden gibt, der nicht schon ein Buch veröffentlicht hat. Das war das nächste Level, wie in einem Computerspiel.

In Düsseldorf bin ich ziemlich schnell dort angelangt, wo ich hinwollte. Ich habe ein Buch geschrieben und angefangen, mit dem Schreiben Geld zu verdienen. Die späten Siebzigerjahren waren in Deutschland die Gründerzeit der Stadtmagazine. Ich habe gehört, dass das Stadtmagazin „Überblick“ in Düsseldorf einen Setzer sucht und bin dort hingegangen und habe gesagt, dass ich das kann. Sie haben mir geglaubt. Ich hatte keine Ahnung vom Setzen, aber ich hatte einen Fuß in der Tür einer Zeitung. Alles war damals offen und fast ohne Hierarchien. Jeder, vom Chefredakteur bis zur Putzfrau, konnte auf Redaktionskonferenzen Vorschläge machen, und ich begann innerhalb kurzer Zeit, eigene Geschichten für diese Zeitung zu schreiben. Zusammen mit Niklas habe ich einen Literaturteil begründet und betreut, der hieß „Völlig aus dem Nichts“. Die Leute vom „Überblick“ waren sehr offen für alle möglichen Ideen.

Peter Glaser, 1982 - "Der Bleistift"

Peter Glaser, 1982 – „Der Bleistift“

Einer der Autoren aus dem Literaturbüro-Umfeld sagte mir, er habe einen Computer zu Hause. 1979! Das war damals so ungewöhnlich, wie als wenn einem jemand sagte: Ich habe einen Antischwerkraftgenerator zu Hause. Das wollte ich sehen. Der Computer auf seinem Schreibtisch sah aus wie eine häßliche Plastikschreibmaschine, und ich dachte erst, dass da noch etwas Waschmaschinengroßes unter dem Tisch dazugehören muß, aber das war es dann schon. Dann hat er die Maschine eingeschaltet und ein Programm über den Bildschirm laufen lassen, den Code, und ich konnte sehen, dass das eine Mischung aus Zahlen und Worten war und ich das nicht verstehe. Da hat meinen Wesenskern als Schriftsteller berührt: Was Sprache ist, will ich verstehen. Und wenn es nicht Sprache ist, es in Sprache verwandeln und verstehbar machen. Mich hat in diesem Augenblick eine Panik befallen, von der inzwischen die halbe Weltwirtschaft lebt: Es war das Gefühl, so schnell wie möglich lernen zu müssen, was diese Zeichen am Bildschirm bedeuten und andernfalls als neuzeitlicher Analphabet zurückzubleiben. Als Niklas und ich 1983 mit dem „Großen Hirnriss“ auf Lesetour waren, war ich der erste Autor in Deutschland, der einen Computer mit auf die Bühne genommen hat.

Ich bin 1957 geboren, gleichzeitig mit dem ersten Sputnik. Auch die Raumfahrt begleitet mich also vom ersten Augenblick an, und ich bin damals in den Sechzigerjahren natürlich von der zeitgemäßen Technikeuphorie erfasst worden. Ich wollte Naturwissenschaftler werden, erst Chemiker, habe auch ein Laboratorium im Keller gehabt. Dann kam ich in die Pubertät und musste zu meinem Entsetzen feststellen, dass Mädchen sich nicht für organische Chemie interessieren. Ich hatte aber Freunde, die etwas älter waren und Gitarre gespielt haben, und da konnte ich dann wissenschaftlich beobachten, wie sich immer, wenn jemand Gitarre spielte, Mädchen dazusetzten. Als junger Mensch ist man leicht korrumpierbar, also bin ich in die Kunst abgerutscht. Erst in die Musik, dann ins Schreiben, und dabei ist es auch geblieben.

Weltenbummler. Peter Glaser 2006 in Tokio.

Weltenbummler. Peter Glaser 2006 in Tokio.

Von 1984 bis zur Jahrtausendwende war ich in Hamburg, eine traumhafte Stadt für Binnenländer wie wir, und auch für Leute, die schreiben. Danach bin ich nach Berlin umgezogen, das hatte private Gründe, ich wollte da eigentlich gar nicht hin. Ende der Neunzigerjahre gab es ja eine gewisse Hysterie, man müsse jetzt unbedingt nach Berlin ziehen. Massen von kreativen jungen Menschen liefen rund um die Hackenschen Höfe herum wie um die Kaaba in Mekka, auf der Suche nach der Mitte von Mitte. Ich habe mich in ein unattraktives Viertel abgeseilt, nach Moabit, und inzwischen in ein noch unattraktiveres, nach Spandau.

Mir war es immer wichtig, als Österreicher angenommen zu werden. Ich bin immer noch Österreicher und bleibe es auch. Ich bin aus Not weggegangen aus Graz, aber da hat keiner Schuld dran. Vielleicht muss das so sein, dass eine Stadt mit so vielen künstlerischen Menschen wie eine Pusteblume ihre Sporen in die Welt hinausträgt. Von Musil gibt es den schönen Begriff vom Welt-Österreichertum. In diesem Sinne.

Manche, die weggehen, entscheiden sich dafür, ihre Identität neu zu finden. Sie nehmen zum Beispiel den Dialekt ihrer neuen Heimat an. Mir war es immer wichtig, als Österreicher erkannt zu werden. Am Anfang hat das mein Selbstbewusstsein aber ziemlich strapaziert, weil ich den Eindruck hatte: Jeder Depp in Deutschland redet Hochdeutsch in ganzen Sätzen, mit Punkt am Ende, während der Österreicher immer irgendwelche Halbsätze in der Luft hängen läßt… Erst später bin ich draufgekommen, dass Österreicher eigene Sprachstrategien haben. Ähnlich, wie Engländer am Ende ‚isn’t it?’ sagen, um das Gespräch in Gang zu halten, machen Österreicher, die in Halbsätzen reden, dem Gegenüber das Angebot, den Satz fertigzustellen. Eine sprachliche Hand, die einem gereicht wird. Dass sich Leute ständig ins Wort fallen, das ist auch typisch österreichisch.

In Österreich ist es besonders spannend, Literatur zu erzeugen, weil man in einer anderen Sprache spricht, als man denkt, um zu schreiben – es sei denn, man heißt Ernst Jandl. Die österreichische Alltagssprache und die Schriftsprache unterscheiden sich sehr, und wenn ich als Autor dienstliche Wahrnehmungen mache, muß ich sie erst in diese Schriftsprache transformieren.

In Deutschland waren sich die gesprochene und die geschriebene Sprache viel näher. Plötzlich war ich in einem Buch, das spricht. Ich bin körperlich in Literatur eingetaucht. Die Schriftsprache war auf einmal auch meine Umgangssprache, das war wunderbar.

Und ich habe bemerkt, dass die Art, wie wir mit Sprache umgehen, hier gut ankommt. „Sie sprechen so schön Süddeutsch“, das wird einem hier als Freundlichkeit entgegengebracht. Man unterstellt den Deutschen oft, sie hätten keinen Humor. Erstens stimmt das nicht und zweitens kann man das auch umdrehen: Man wird in Deutschland viel eher ernst genommen. Als junger Schriftsteller in Graz habe ich das nie erlebt.

Peter Glaser, heute in Berlin

Peter Glaser, heute in Berlin

Ich glaube, dass ich nach Graz zurückkomme, das geht nicht. Ich pflege meine alten Freundschaften und auch neue, und ich entdecke meine alte Heimat immer wieder neu. Ich habe die steirische Weinstraße für mich wiederentdeckt. Wenn ich wirklich reich und berühmt wäre, würde ich mir dort ein Baumhaus einrichten. Aber ich habe Blut geleckt und bin ein Großstadtmensch geworden. Eine Straße in Graz hatte immer schon so etwas andeutungsweise Großstädtisches: die Kreuzung Bahnhofgürtel und Kärntnerstraße, wo auf den Schildern „Flughafen“ und „Slowenien“ steht. Da bin ich früher nachts manchmal hingegangen, um Großstadtgefühl zu atmen, und wenn man nicht scharf hingesehen hat, hatte es tatsächlich etwas davon.

Aufgezeichnet von Marijana Miljkovic 2007; Update 2014

Peter Glaser wurde 1957 in Graz geboren und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er bloggt für die Neue Zürcher Zeitung (http://glaserei.blog.nzz.ch) und befasst sich als Journalist mit der digitalen Welt. Für seine Erzählung „Geschichte von Nichts“ wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

Hier geht es zu den Essays übers „Auslandsgrazersein“, die Peter Glaser für grazoutside.net geschrieben hat.