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„Kultur ist für mich lebensnotwendig“

Die gebürtige Grazerin Dr. Sissy Geiger verbrachte mehr als vier Jahrzehnte in Darmstadt und setzte sich dort unermüdlich für die Kunst und Kultur der Stadt ein. Ohne ihr Engagement wäre die UNESCO-Bewerbung der Mathildenhöhe als Weltkulturerbe nicht so schnell erfolgt.

 

Dr. Sissy Geiger vor dem Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, © Günther Jockel, Darmstädter Echo - 06.10.2008

Dr. Sissy Geiger vor dem Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, © Günther Jockel, Darmstädter Echo – 06.10.2008

 

Wie war Ihre Kindheit in Graz?

Sissy Geiger: Ich wohnte mit meinen Eltern und meiner Schwester Edith, die heute eine bekannte Malerin und Glaskünstlerin* ist, in der Panoramagasse. Meine Eltern besaßen das Annenhofkino. Mein Großvater Oskar Gierke war ein Pionier der Kinogeschichte. 1897 kaufte er einen der vier Kinematographen  der Brüder Lumière und reiste mit einem großen Zelt (320 Sitzplätze) und einem Lokomobil, das mit Dampf betrieben wurde, durch die damalige k&k Monarchie bis in die Bukowina, nach  Rumänien und Oberitalien, um  Filme  in seinem Wanderkino zu zeigen. Transportiert wurde er von den ortsansässigen Bauern mit Ochsen- oder Pferdewagen, einmal beförderte ihn sogar der Zirkus Knie ins nächste Dorf. 1900 beschloss er, in Österreich sesshaft zu werden. Mein Großvater eröffnete 1906 das erste ortsfeste Kino in Graz, das „Grazer  Elektro-Bioskop“ für 300 Personen in der heutigen Conrad-von-Hötzendorf-Straße. 1909 erfolgte die Eröffnung seines zweiten Kinos – das „Bioskoptheater Annenhof“, das Platz für ca. 1000 BesucherInnen bot und wie ein Theater eingerichtet war. Heute befindet sich das sehr umfassende Archivmaterial des Annenhofkinos im Landesmuseum Joanneum.

* Anm.: Edith Temmel

 

Wie entdeckten Sie Ihre Liebe zur Kunst?

Geiger: Von Dr. Trude Aldrian, die eine Freundin meiner Mutter war und später (1963 bis 1965) die Neue Galerie Graz leitete, hörte ich zum ersten Mal etwas über jüdische Kunst und Marc Chagall – ich war sofort fasziniert davon. Außerdem sammelte mein Vater Gemälde und kaufte sogar auf Anraten von Dr. Koschatzky, dem späteren Direktor der Albertina, zehn Gemälde aus dem Besitz des Grafen Attems.  Mein Fundament war also schon im Elternhaus gelegt und so studierte ich Kunstgeschichte und Archäologie an der Universität Graz. Als die Stelle des verstorbenen Ordinarius nicht unmittelbar nachbesetzt wurde, beendete ich mein Studium an der Universität Innsbruck.

 

Was hat Sie nach Darmstadt geführt?

Geiger: Mein Mann stammt aus Kaiserslautern und war Assistent am Lehrstuhl für Maschinenbau an der TH Aachen. Wir lernten uns über seinen besten Freund kennen. Wir heirateten 1966 und zogen nach Darmstadt, wo mein Mann in einer großen Maschinenfabrik tätig war.

 

Was war für Sie der größte Unterschied zwischen Graz und Darmstadt?

Geiger: Es war für mich ein Kulturschock.  Gegen Ende des 2. Weltkrieges war auf Darmstadt der Probeangriff auf Dresden verübt worden, bis auf wenige Häuser war die Stadt durch die Bomben zerstört worden. Als ich nach Darmstadt kam, waren durchaus noch die Wunden der Zerstörung sichtbar. Wenn man aus einer Stadt wie Graz mit seinem dichten, mittelalterlichen Kern kam, war das natürlich ein Schock. Außerdem hatte ich anfangs furchtbares Heimweh. Also beschloss ich, etwas zu tun – mich zunächst in der Schulpolitik und schließlich im Bereich Kultur einzubringen. Unter anderem war ich 20 Jahre lang im Denkmalschutz tätig.

 

Das historische Erbe der Mathildenhöhe mit ihrem Jugendstil-Ensemble präsentiert sich heute dank Ihres Engagements als ein einzigartiges Gesamtkunstwerk aus Hochzeitsturm, Ausstellungsgebäude, Museum Künstlerkolonie und Künstlerhäusern. Können Sie mir bitte mehr dazu erzählen?

Geiger: Der 23-jährige Großherzog Ernst Ludwig von Hessen wollte eine Stadt schaffen, wo nur die Kunst herrschen und allen Menschen zugutekommen sollte. Er war ein Enkel von Königin Victoria und von der englischen Arts & Crafts-Bewegung (Erneuerung des Handwerks-Ideals) begeistert. Es gab damals in Darmstadt wenige Ressourcen, aber viele Manufakturen. So gründete der Großherzog 1899 die Darmstädter Künstlerkolonie: Er fand gegen den Willen von Kaiser Wilhelm II. mittels einer Ausschreibung sieben junge Künstler,  deren Ziel die Erarbeitung neuzeitlicher und zukunftsweisender Bau- und Wohnformen sein sollte. Die Künstler (u.a. Olbrich und Behrens) konnten zu günstigen Konditionen Grundstücke auf der Mathildenhöhe erwerben und darauf jeweils ein Wohnhaus nach ihren Vorstellungen errichten, die allerdings alle, bis auf das Haus Behrens, von Olbrich, dem Schöpfer der Wiener Sezession, gebaut wurden. 1901 wurden die Künstlerhäuser in einer Ausstellung mit dem Titel „Ein Dokument deutscher Kunst“ dem Publikum präsentiert. Der Imagegewinn war enorm, aber die Schau endete mit einem großen finanziellen Defizit. Es folgten weitere Ausstellungen und Olbrich beispielsweise versuchte sich auch im Wohnsiedlungsbau. Alle ausgestellten Objekte sollten für jeden und jede leistbar sein. Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde die gerade laufende Ausstellung auf der Mathildenhöhe abgebrochen. Auch wenn die Epoche der Darmstädter Künstlerkolonie kurz war, stellte sie dennoch den Geburtsstein des Designs dar. Die Wurzeln der Hochschule Darmstadt reichen in diese Zeit zurück, sie bildet u.a. Künstler und Designer aus.

 

Das Ensemble Mathildenhöhe mit Hochzeitsturm, Ausstellungsgebäude, Lilienbecken und Russischer Kapelle, © Nikolaus Heiss - Darmstadt

Das Ensemble Mathildenhöhe mit Hochzeitsturm, Ausstellungsgebäude, Lilienbecken und Russischer Kapelle, © Nikolaus Heiss – Darmstadt

 

Sie gründeten 2006 den Verein „Freunde der Mathildenhöhe“ und waren eine Wegbereiterin für die UNESCO-Bewerbung der Mathildenhöhe als Weltkulturerbe. Wie sehen Sie Ihr Engagement rückblickend?

Geiger: Für mich ist Kultur lebensnotwendig. Mein Engagement für die Kunst und Kultur war mit sehr viel Einsatz verbunden und harte Knochenarbeit. Ich gründete Bürgerinitiativen, organisierte Feste, um Geld zu sammeln, Einladungen wurden vielfach mit der Hand geschrieben und persönlich ausgeteilt.

 

Was schätzen Sie besonders an Darmstadt?

Geiger: Theater, Oper und Schauspiel sind hervorragend. Vor dem Bau der Mauer erfolgte ein großer Zuzug von Verlagen (Springer-Verlag, Burda-Verlag usw.) nach Darmstadt und es wurde eigens ein neues Stadtviertel dafür ausgerichtet. Es finden sehr viele Literaturwettbewerbe statt und der renommierteste Literaturpreis im deutschen Sprachraum, der Georg-Büchner-Preis wird jährlich von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt verliehen. Die Darmstädter Sezession mit ihren Mitgliedern aus der ganzen Welt ist herausragend und veranstaltet jährlich eine Ausstellung auf der Mathildenhöhe.

Zudem steht Darmstadt auch für Wissenschaft und Forschung.

 

Im Jahr 2009 kehrten Sie mit Ihrem Mann in die alte Heimat Graz zurück. Haben Sie hier einen Lieblingsplatz?

Geiger: Das Restaurant „Santa Clara“ mit seinem wunderschönen Innenhof ist für mich ein solcher Ort, an dem ich seit 25 Jahren mit unseren Kindern und Enkelkindern oft und sehr gerne bin.

 

Welchen Rat können Sie mit Ihrem reichen Erfahrungsschatz jungen Menschen geben, die gerne zu neuen Ufern ins Ausland aufbrechen möchten?

Geiger: Die jungen Menschen sollen hinausgehen und sich die Welt anschauen, Sprachen lernen, neue Sitten und Gebräuche kennenlernen. Denn nur so kann man andere Kulturen verstehen.

Andrea Harrich

 

 

Darmstadt und Graz verbindet seit dem Jahr 1968 eine Städtepartnerschaft, die durch einen regen Austausch vor allem in den Bereichen Kultur und Wisssenschaft geprägt ist.