Grazoutside

Keine Stadt für King Kong

Wie an einem seelischen Flussufer lebt man in Graz am Rand eines leicht und unendlich hinströmenden Seufzens. Hier strahlen die Dinge erst auf, bevor sie geschehen.

Ein genusstiefes Seufzen ist auch der Blick in die Landschaft. Das Aufatmen beginnt in der Ebene im Süden der Stadt. Eine von Dunst helle Weite verliert sich über der eigentlichen Stadtfläche, die aus dem Norden her eingefasst wird von auslaufenden Bergzügen, wie von einer großen, grünen Beruhigung. Das Ausatmen streicht dann zurück über das Verkehrsrauschen der Stadt und wieder in die Ebene hinaus und zerfliegt in dem Wind an einer Autobahnböschung. Dieses Seufzen ist der Ton einer freundlichen Bedrückung, wie von einem übergewichtigen Liebhaber. Der Dunst über der Stadt erscheint als das graue Haar einer Schönheit, die Bläue darüber als eine unmerkliche Umarmung.

Foto: Alexander Krischner http://www.flickr.com/photos/daalex/8350047011/

Foto: Alexander Krischner http://www.flickr.com/photos/daalex/8350047011/

Einer wie ich, der in dieser Stadt aufgewachsen ist, kennt die hiesige Gelassenheit, die ich überallhin mitnehme und die sehr nützlich ist gegen die Zumutungen der Welt. In Graz ist etwas Rundliches an jeder Rasanz. Aus den Tiefen der Mentalität wirkt ein Magnetismus der Nachlässigkeit in die Grazer Menschen hinein, an dem dieselbe freundliche Größe ist wie an den langgewellten Kammlinien der Berge am Rand der Stadt.

Wir saßen in Berlin, ein Freund aus Graz und ich. Er hatte mitgebracht, worum ich gebeten hatte, Kernöl, eine Grazer Tageszeitung und eine Kastanie in der grünen, stacheligen Fruchtschale. „Sterne der Heimat“, sagte ich und roch an den Strahlen der Kastanie. Dann nahm ich die Zeitung zur Hand und fühlte mich in ineinanderfliegenden Erinnerungen an zahllosen Tagen in immer derselben Versunkenheit in einem Café sitzen und Zeitung lesen. Ich war auf das Innigste angerührt von jeder Waschpulverreklame, von jedem Wurstpreis in der Zeitung, als gäbe es im Herzen von Graz einen märchenhaften Supermarkt, in dem mich meine Eltern einst gekauft hatten und nach dem ich mich nun heimwehkrank sehnte.

„Es gibt keine Skyline in Graz“, sagte der Freund. „Keine Stadt für King Kong. Der würde da einen Bandscheibenschaden kriegen. Er könnte sich nur auf den Schlossberg setzen oder sich das Augartenbad mit Kaffee anfüllen lassen und schluckweise austrinken.““

„Ja, Kino“, sagte ich. Deswegen musste ich weggehen aus Graz. In den Filmen das Großstadtleuchten hat mich in die Welt hinausgelockt. Es ist in Graz wunderbare Gelegenheit, zu flanieren, ein Gänger zu werden. Durch Hügel aus Herbstlaub zu waten, unter den Gaslaternen an den Wegen im Stadtpark, und in der Innenstadt die Lichter aus den Auslagen und die Leuchtschriften von den Fassaden mit den Augen auszutrinken, immer aber im Gefühl einer glimmenden Unzufriedenheit, dass die Lichter der Stadt nicht in dieser Großstadtpracht leuchten und über breite Boulevards.

Immer gehen, bis man eine ganz selbstbewusste Ziellosigkeit erreicht hat, das geht, während einem die Schatten der schmiedeeisernen Zaunspeere vor dem Elisabethinerkrankenhaus über das Hemd streifen, nichts in den Händen zu tragen, nur die Stadt zu sehen, durch einen dünnen Schneefall die mondglänzenden Straßenbahnschienen in der Annenstraße entlang, oder in der Josef-Huber-Gasse im März einem staubschwebenden und schweren, gelben Spätnachmittagslicht zu begegnen, bis man endlich in aller Beschaulichkeit halb wahnsinnig geworden ist vor Sehnsucht nach turbulenten, rasenden, gluthell erleuchteten großen Städten, und alle anheimelnden Grazer Gasthausgärten und behaglichen alten Bürgerhäuser und Clubs, als würde langsam die Luft aus ihnen entweichen, schrumplig geworden sind. Dann geht man weg, oder man wird wie ein leerer Briefkasten. Dann kommt man wieder.

Ist es eine Liebe zu Graz? Jedes Mal, wenn ich nach Monaten oder einem Jahr wieder ankomme in der Stadt, bin ich wild gerührt vor Wiedersehensfreude und jede Einzelheit scheint umarmenswert, jede Straßenbahnhaltestelle, jeder unebene Asphaltflicken auf einer Gasse, als leuchte mir daraus das Eigenste der Stadt hervor. Wenn ich wieder in der Stadt bin, ist es jedes Mal ein Gefühl wie vom Mars gekommen zu sein, so unvorstellbar ist mit einem Mal jede andere Umgebung. Das zweite Gefühl ist, siegreich zurück gekommen zu sein, obwohl nichts gewonnen ist als ein Abstand.

Es ist unmöglich, sich Graz angemessen zu nähern, wenn man mit dem Flugzeug ankommt. Berlin, New York oder Peking sind Städte, die man mit dem Flugzeug betritt. In Athen muss man mit dem Auto eintreffen, nachts, in Wien auch, um das Lichtermeer zu sehen von einem erhöhten Autobahnzubringer aus. Nach Graz kommt man per Bahn zurück. In der Bahnhofshalle späht man dann umher, ob einem vielleicht durch einen mit den Jahren immer unwahrscheinlicheren Zufall jemand, den man kennt, über den Weg läuft. Flugzeuge und Autobahnen und Computer sind Dinge, die nur davon ablenken sollen, wie famos und milde abgelegen die Stadt Graz von den schnell aufrauschenden internationalen Zeitströmungen liegt, „Steirischer Herbst“ hin oder her. Es wird immer wieder versucht, diese schöne Abseitigkeit zu vertuschen, die ja wahrhaftig kein Mangel ist, sondern ein Lächeln in der Landschaft.

Abends schimmern die Kegler-Pokale im Wirtshaus, auf den Tischen Plastikfeuerzeuge in den Landesfarben. Die Straßenbahn kommt nicht. Arbeiter sitzen beim Gulasch, da am fallenden Saum der Alpen. In der Stadt: Fachgeschäfte, Spiegelungen, Liebesgeschichten, manchmal noch Zigarettenstummel, Kastanienalleen. Dann an der Mur sitzen und an das Meer denken. Dann Wurstsemmeln und die Frage, ob es den roten Taubenfutterautomaten im Stadtpark noch gibt. Dann eisblaues Licht aus den Operationssälen in den Obergeschossen des Vorklinikums. Das Glück im Vorbeigehen, das Glück einer alten Heimat.

Text: Peter Glaser

Peter Glaser wurde 1957 in Graz geboren und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er bloggt für die Neue Zürcher Zeitung (http://glaserei.blog.nzz.ch) und befasst sich als Journalist mit der digitalen Welt. Für seine Erzählung “Geschichte von Nichts” wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

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