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Sprache als Heimat: Wie wichtig ist die Muttersprache für die eigene Identität?

Gerade für Menschen, die im Ausland leben, kann die Muttersprache und der eigene Dialekt ein Stück Heimat und ein Teil ihrer kulturellen Identität sein. Diese zu bewahren ist nicht immer einfach. Wir haben dazu den Sprachwissenschaftler Rudolf Muhr befragt, der selbst im Ausland gelebt hat und sich intensiv mit Österreichischem Deutsch beschäftigt.

grazoutside.net: Herr Muhr, Sie haben mehrere Jahre im Ausland – in Schweden und Großbritannien – gelebt. Wie wichtig waren diese Erfahrungen für Sie?

Der Sprachwissenschaftler Rudolf Muhr

Der Sprachwissenschaftler Rudolf Muhr

Rudolf Muhr: Sehr wichtig. Ich habe erlebt und erfahren, dass man auf ganz verschiedene Weise leben kann und es ganz verschiedene Welten gibt.

GO: Und was hat es für Sie aus sprachlicher Sicht bedeutet, ins Ausland zu gehen? Hat sich Ihre Sprache dadurch verändert?

RM: Ganz sicher. Zuerst habe ich die Erfahrung der Anpassung ans Englische erlebt, dann das Problem gehabt, dass ich plötzlich nicht mehr Standarddeutsch konnte, sondern meine Muttersprache, das Südburgenländische hervorgebrochen ist. Erst nach einer Weile ist das alles wieder ins Lot gekommen. Dann habe ich allerdings wegen meiner Frau Französisch gelernt und dann hat die neue Sprache dazwischengefunkt. Das Schwedische habe ich durchs Sprechen gelernt und nach drei Monaten praktisch alles sagen können. Das war ein tolles Gefühl.

GO: Wie wichtig und identitätsstiftend ist aus Ihrer Sicht die Muttersprache und der regionale Dialekt für Menschen, die nicht mehr in ihrem Herkunftsland leben?

RM: Extrem wichtig. Es ist die Sprache der unmittelbaren, emotionalsten und am tiefsten verankerten Erfahrungen. Zwischen einem „Dialekt“ und einer sogenannten „Sprache“ gibt es diesbezüglich keinen Unterschied.

GO: Es heißt, dass sich österreichische Regionalvarianten einander und gegenüber dem Deutschländischen Deutsch immer mehr angleichen oder sogar ganz aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Warum ist das so?

Das hat mit den Größenverhältnissen (Österreich-Deutschland) und dem ständigen Sprachkontakt via Fernsehen und den auf Deutschländisch synchronisierten Serien und Filme amerikanischer Herkunft zu tun. Aber auch mit dem mangelnden sprachlichen Selbstwertgefühl der ÖsterreicherInnen im Allgemeinen und dem sprachlichen Opportunismus der österreichischen Eliten zu tun, die sich mit der Übernahme deutschländischer Ausdrücke sozial „nach unten“ abgrenzen.

GO: Ist das aus Ihrer Sicht eine beunruhigende Entwicklung?

RM: Sie ist beunruhigend, weil dadurch ein Teil der österreichischen Identität verloren geht und das mangelnde Selbstwertgefühl weiter geschwächt wird.

GO: Welche Bedeutung haben AuswanderInnen oder Expats für die Entwicklung einer Sprache?

RM: Wenig, wenn sie auf längere Zeit wegbleiben. Üblicherweise wird in der Ferne ein bestimmter Sprachzustand konserviert, was sich erst wieder ändert, wenn man auf längere Zeit ins Heimatland zurückkehrt.

GO: Die meisten GrazerInnen würden von sich wohl behaupten, dass sie Steirisch sprechen. Gibt es eigentlich auch ein “Grazerisch” oder besonders Graz-typische Ausdrücke und Redewendungen?

RM: Es gibt wenige solche grazspezifische Ausdrücke, da sich in den ostösterreichischen Städten eine weitgehend einheitliche Sprache etabliert hat. Am ehesten ist das Grazerische an der Aussprache erkennbar.

GO: Was geben Sie Menschen mit, die im Ausland leben und, die ihre Sprache bzw. ihren Dialekt nicht verlernen möchten?

Sie sollen alle Sprachen, die sie können, pflegen und erhalten. Jede Sprache ist ein wertvolles Gut, sie zu verlernen ein schwerer Verlust. Das geschieht am besten dadurch, dass man sie regelmäßig spricht.

Interview: Alena Schmuck

Rudolf Muhr wurde im Südburgenland geboren und lebt seit über drei Jahrzehnten in Graz. Auf Initiative Muhrs gehen u.a. das österreichische Wort und Unwort des Jahres zurück.
Mehr über Rudolf Muhr und seine Forschungsarbeit auf der Webseite der von ihm geleiteten Forschungsstelle Österreichisches Deutsch an der Karl-Franzens-Universität Graz und auf Wikipedia.