Grazoutside

Portrait: Nina Ergin

Ich hatte eigentlich anfangs nicht vor, aus Graz wegzuziehen. Meine Familie war in Graz, mein damaliger Freund war Grazer, alle meine Freunde waren da. Ich hatte nicht einmal das Bedürfnis nach Wien zu ziehen. Mit dreiundzwanzig habe ich mich für ein Austauschprogramm beworben und bin nach Minnesota gegangen.

Die Universität dort hat mir wirklich sehr gut gefallen, wesentlich besser als die Karl-Franzens Universität, wo das Kunstgeschichteinstitut sehr überlaufen war, besonders mit weiblichen Studierenden, die eigentlich ohne Grund und Ziel studierten. Die Professoren haben uns dementsprechend behandelt. So auf die Art: „Jaja, wir wissen, du heiratest dann sowieso später einmal einen Doktor und bis dahin geben wir dir halt noch ein bisschen eine Erziehung mit.“ In den USA war die Universität wesentlich frauenfreundlicher und straffer organisiert, die Vorlesungen und Seminare klar und logisch aufgebaut, und die Professoren haben sich persönlich um uns gekümmert und auf unsere Ansichten Wert gelegt. Das hat mir gefallen. Nach dem Austauschjahr bin ich noch für ein Jahr zurückgekommen, habe schnell den Magister und mein Übersetzerzertifikat (Englisch, Türkisch) fertig gemacht und bin dann zurück in die USA. Nach dem Austauschjahr habe ich mich in Graz nicht mehr wirklich zu Hause gefühlt.

In Minneapolis hatte ich auch meinen jetzigen Mann kennen gelernt. Er ist Türke, hat aber an der University of Minnesota sein Doktorat in Soziologie gemacht. 2001 bin ich, um Recherchen für meine Doktorarbeit zu machen, in die Türkei gereist. Nach zwei Jahren hatte ich genug Material, um die Doktorarbeit zu schreiben. So sehr ich nach Österreich mit meinem Herzen in Minneapolis war, so sehr hat sich das dann nach Istanbul verlagert. Ich konnte mir immer weniger vorstellen, diese Stadt wieder zu verlassen.

Nina Ergin (2. v. l.) mit Ehemann und Freunden in Istanbul

Nina Ergin (2. v. l.) mit Ehemann und Freunden in Istanbul

Ein Hin und Her

Einige Jahre hatten wir ein ziemliches Hin und Her zwischen der Türkei und den USA. Ich hatte einen Job an der Bilgi Universität, am Geschichteinstitut. Wir sind danach nochmals für ein Jahr in die USA zurückgekehrt, weil ich dort eine Professur bekommen habe. Aber sowohl ich als auch mein Mann hatten Heimweh nach der Türkei. (Mittlerweile, wo wir permanent in der Türkei sind, haben wir auch Heimweh nach den USA, aber das passiert wohl oft so, dass man gewisse Dinge einfach vermisst.) Hinzugekommen ist, dass es nach dem 11. September schwieriger wurde, wenn man sich mit islamischen Themen beschäftigte oder aus einem islamischen Land kam. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass die Amerikaner auch offener wurden für alles, was mit Islam zu tun hat, Sie wollen mehr über diese Leute lernen und stellen deshalb Professoren an, die sich mit islamischer Kultur beschäftigen.

2005, im Sommer, in dem wir geheiratet haben, sind wir zurück in die Türkei. Seither kann ich mir nicht mehr vorstellen, woanders zu leben. Wir sind beide an der Koç University in Istanbul beschäftigt, einer Privatuniversität nach amerikanischem Muster. Das ist hier eine richtige amerikanische Enklave in einem türkischen Umfeld. Amerikanisch ist, dass alles auf eine sehr professionelle Art und Weise gehandhabt wird, dass die Magister- und Doktoratsstudenten wie Kollegen behandelt werden. Es wird auch sehr viel Wert darauf gelegt, dass wir zu internationalen Konferenzen reisen und international publizieren. Das türkische Umfeld erscheint aus österreichischer Perspektive vielleicht als chaotisch. Aber wo man in Österreich an Regeln stößt und die Leute sagen, das geht nicht, findet man in der Türkei immer irgendwie einen Weg. Es herrscht auch ein anderes Zeitempfinden. Der Verkehr hier in Istanbul bricht regelmäßig zusammen, und man muss einfach lernen, die Dinge lockerer nehmen.

Nina Ergin mit ihrem Ehemann Murat

Nina Ergin mit ihrem Ehemann Murat

Als Frau in der Türkei

Immer wieder werde ich einmal gefragt, wie es denn in der Türkei als Frau ist, ganz besonders wenn man die Richtung, die die jetzige Regierung eingeschlagen hat, in Erwägung zieht. In sozial höheren Schichten haben Frauen den gleichen Zugang zu Jobs wie Männer. Es ist bemerkenswert, wie viele Frauen Professuren innehaben. Im Vergleich schneidet Österreich schlecht ab. Ich muss aber auch sagen, dass das teilweise möglich ist, weil in Österreich von Frauen, egal wo sie beruflich stehen, erwartet wird, dass sie trotzdem den Haushalt machen. In der Türkei gibt es so viele billige Arbeitskräfte, dass man sich eine Putzfrau, ein Kindermädchen leisten kann.

Mein Mann und ich wohnen in einer schönen Maisonette am Universitätscampus. Der Campus liegt etwas außerhalb von Istanbul, auf der europäischen Seite, ganz im Norden vom Bosporus. Wie das mit so vielen sogenannten „gated communities“ in den Vororten um die neo-liberale Welt herum der Fall ist, so wird unser umzäunter Campus von Sicherheitsbeamten bewacht. Das war für mich am Anfang relativ hart zu schlucken, diese Abgrenzung gegen andere soziale Schichten. Gehen wir aus dem Campus heraus, zum Beispiel an den Bosporus, gibt es da eine kleine Ortschaft, Sariyer, die mittlerweile auch in Istanbul integriert ist, das seine Arme wie ein Oktopus ausstreckt. Der Ort schaut noch relativ traditionell aus.

Unser soziales Umfeld ist durch die Universität, unsere Freunde—viele von ihnen auch Akademiker oder zumindest von recht buntgemischter nationaler Herkunft—und die Familie meines Mannes gekennzeichnet. Das ist keine wohlhabende Familie. Sie wohnen am Marmarameer, sind recht einfache Menschen und haben eine richtige Bauernschläue. Mit meiner Schwiegermutter habe ich großes Glück. Sie mischt sich nicht in unser Leben ein und akzeptiert mich, so wie ich bin. Es hat aber auch lange gedauert, bis mein Mann seiner Familie gesagt hat, dass er eine Freundin hat, die nicht Türkin ist, und bis er mich dann vorgestellt hat. In der türkischen Gesellschaft stehen die Kinder teilweise unter starkem Druck, alles zu tun, damit die Eltern glücklich werden. Es gibt großen Respekt für die Elterngeneration. Ich bewundere die Eltern meines Mannes, wie sie mit geringen Mitteln drei Kinder großgezogen haben und zwei Kindern eine Ausbildung an der Universität ermöglicht haben, obwohl normalerweise schon eine Privatschule nötig ist, um an eine Eliteuniversität zu kommen. Und ich finde, sie haben sehr anständige und sehr gute Menschen großgezogen.

Bei ihrer Promotion in Minneapolis im April 2005 mit ihrer stolzen Frau Mama

Nina Ergin bei ihrer Promotion in Minneapolis im April 2005 mit ihrer stolzen Frau Mama

Langeweile und Lebensqualität   

Mit Graz, muss ich leider sagen, assoziiere ich hauptsächlich eine gewisse Langeweile. Man geht in die Stadt und die Cafés sperren zu einer Zeit zu, wo das Leben auf der Straße in der Türkei noch nicht einmal richtig angefangen hat. Zum Teil langweilt mich auch ein bisschen, wie die Leute über Dinge denken. Spricht man über andere Kulturen, hat man häufig das Gefühl, das interessiert nicht und man bekommt so Plattitüden zurück wie „Ja, ja, das ist halt eine ganz andere Kultur“ oder „Zuhause ist es doch am schönsten.“ Für manche Leute ist es sicher wunderbar in Graz, diese Ruhe. Für mich allerdings ist das nichts. Je älter man wird, desto mehr findet man heraus, was einem gut tut. Wenn man die Möglichkeit hat, aus verschiedenen Kulturen Aspekte zu nehmen und sie so zusammenzustellen, dass man sich als Person wirklich wohl fühlt, dann empfinde ich das als ideal. Man bleibt nicht auf eine Kultur beschränkt. In meinem Leben ist das soziale Umfeld türkisch, das berufliche Umfeld die USA, und gewisse Sachen aus Österreich kann ich auch beibehalten – eine gute grundlegende Bildung, Weihnachten, Semmelknödel, und einen Sinn für die Lebensqualität.

Nina Ergin beim Snowboarden im Nordosten der Türkei

Nina Ergin beim Snowboarden im Nordosten der Türkei

Text: Wolfgang Haas, 2007; Update: 2014