Grazoutside

Keiner baut solche Berge

Wir leben in einer Zeit, in der man verlorengehen kann vor lauter Gegenwart. Aus allen Teilen des Planeten werden Information und Nachricht in endlosen Mehrzahlen auf uns zugeschwemmt. Von einem ganz bestimmten Ort herzukommen, ich nehme einmal die Stadt Graz, gibt uns nicht nur eine selbstverständliche Richtung nach Längen- und Breitengraden, sondern auch eine Richtung in der Zeit. Jene die Stadt einfassenden Ausläuferberge, die von überall in Graz aus zu sehen sind, haben mir eine wie selbstverständliche, zuinnerste Grundorientierung gegeben. Die Wellenformen der Bergkämme sind für mich wie Schlüsselbärte, die eine jeweils ganz bestimmte Richtung öffnen. Später, in Städten, um die sich berglose Umgebungen ausbreiten, war ich leicht, aber tief desorientiert.

Unsere Herkunft führt uns immer wieder hinaus aus der Enge der Gegenwart und in die wunderbare Übermacht einer Landschaft. Keiner von uns wird jemals solche Berge bauen. Als ich nach Deutschland kam, fehlte mir nicht aus Sentimentalität die Landschaft von zu Hause, sondern weil ich darin immer die Richtung wusste. Nebenbei hatte ich so stets vor Augen, dass es Dinge gibt, die größer sind als ich und von keinem Menschen gemacht. Ich wusste immer, wohin. Das änderte sich, als ich ins Flache umzog, nach Hamburg, und zugleich die ersten Tauchgänge in die digitale Welt unternahm.

Foto: Tobias Abel https://www.flickr.com/photos/lennox_mcdough/2722620592

Foto: Tobias Abel https://www.flickr.com/photos/lennox_mcdough/2722620592

Orientierung im Orient

Draußen im Analogen war ich desorientiert und nahm die innere Bergkammlinie dann mit ins Internet. Die Orientierung zog sich zurück aufs Lokale, ins Virtuelle. Und auf Menschen. Manchmal stellte sich ein Schwindelgefühl ein – wo bin ich? Aber in diesem Gefühl kann man sich auch wohlig auflösen. Es gibt kürzere Verbindungen zwischen A und B als eine gerade Linie, und auf diese Weise kann man sie erkunden. Künstler wissen viel über den Verlauf dieser Abkürzungen.

Als ich das erste Mal in Kairo war (das Wort Orientierung hat seine Wurzeln in der Ausrichtung nach dem morgendlichen Sonnenlicht, dem Orient), hatte ich einen Kompass dabei, eigentlich, um den Verlauf der Pyramidenseiten nach den Himmelsrichtungen nachzuprüfen. Nützlich war mir der Kompass dann, als auf einem langen Spaziergang die Straßenschilder erst nur noch arabisch beschriftet und dann gar nicht mehr vorhanden waren. Da ich wusste, wo ich hinwollte, lief ich mit dem Stadtplan, von dem ich wusste, dass er genordet ist, und dem Kompass gassentastend nach meinem Ziel hin. Dort in Ägypten war ich dann auch an dem Ort, an dem die Furcht vor der digitalen Welt und ihren Zumutungen entstanden ist: Die höchste hieroglyphisch darstellbare Zahl zeigt einen Mann, der zu Boden gesunken ist und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt.

Ein paar Jahre später erreichten meine immer neuen Orientierungsversuche in Amerika einen absurden Höhepunkt. Kleine Maschinen sagen uns heute, wohin die Reise geht; manchmal jedenfalls. Mit einem satellitengesteuerten Navigationssystem ist es wie in alten Zukunftsvorstellungen, in denen der Mensch in Kuppelstädten wohnt und auf Schwebegleitern zur Arbeit fährt. Das Navi verwandelt das private Kraftfahrzeug in ein auf virtuellen Schienen entlangeilendes Gefäß. Prinzipiell jedenfalls.

Foto: http://en.wikipedia.org/wiki/File:DowntownChicagoILatNight.jpg

Foto: http://en.wikipedia.org/wiki/File:DowntownChicagoILatNight.jpg

Als ich mich im Auto von New York auf den Weg nach Chicago machte, wohin ich als Grazer Schriftsteller eingeladen war, sollte ein Navigationssystem das Abenteuer abmildern, mit einem fremden Auto durch eine fremdes Land zu fahren. Das erste Gerät, das meiner Frau und mir in Manhattan ausgehändigt wurde, konnte man ans Armaturenbrett heften, aber es war autistisch. Das Gerät sprach nicht mit uns, und alles, was es anzeigte war ein unveränderlich gerader, roter Strich auf dem Stadtplan. Zurück zur Autovermietung, hieß es, dass momentan kein anderes Gerät mehr verfügbar sei, wir müssten zu einer anderen Filiale. Ohne Navigationssystem? Im Feierabendverkehr? Geht alles.

Der Mann, der uns den neuen Richtungsweiser aushändigte, wollte uns einen Gefallen tun und stellte als Bedienungssprache Deutsch ein. Da er kein Deutsch sprach, wusste er ab da nicht mehr – und wir noch nicht – wie man das Ding bedient. Es würde von allein funktionieren, er lachte. Der Feierabendverkehr war in vollem Gang, und tatsächlich sprach das System zu uns, aber nach einer Minute war wieder Schluss damit. Lost Satellite. In der Schluchttiefe zwischen den Wolkenkratzern gibt es kaum GPS-Empfang.

Abends im Hotel liegt das Navigationssystem auf dem Bett und sagte in Abständen: „In dreißig Metern nach rechts abbiegen!” Ich konnte keinen Ausschaltknopf finden. Ich wusste, wenn das Ding die ganze Nacht die Richtung ansagt, drehe ich durch. Vielleicht laufen deshalb ab und zu Leute in Einkaufszentren Amok, weil sie den Ausschaltknopf an ihrem Navigationsgerät nicht finden können.

Eine Viertelstunde später fand ich den winzigen, brilliant getarnten Knopf dann doch noch, und acht Tage später saßen wir, nach einem Aufenthalt bei den Amischen, von denen ich mich als technophiler Mensch sehr angezogen gefühlt hatte, in einem merkwürdigen Gebäude (das mich sofort an den Film „Being John Malkovich“ erinnerte, in dem es ein siebeneinhalbtes Stockwerk gibt) in der Near North Side von Chicago, was ich auch erst weiß, seit ich wieder zurück bin von dort, da ich meine Orientierungslosigkeit, die mir im übrigen nichts ausmacht, zumindest im Nachhinein zu beheben versuche, hörten einem musikalischen Vortrag auf einem Clavichord zu und sahen der Eröffnung einer Ausstellung mit Malereien einer Lehrerin aus dem obersteirischen Kindberg entgegen, aber das ist schon eine andere Geschichte.

Peter GlaserText: Peter Glaser

Peter Glaser wurde 1957 in Graz geboren und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er bloggt für die Neue Zürcher Zeitung (http://glaserei.blog.nzz.ch) und befasst sich als Journalist mit der digitalen Welt. Für seine Erzählung “Geschichte von Nichts” wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

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