Grazoutside

Die wahren Wappen des Landes

Nähme man dem Österreicher – vor allem aber dem Auslandsösterreicher – ein paar ganz bestimmte Sachen weg, hätte das zur Folge, dass der Österreicher nur noch wenig Österreicher wäre, vielleicht gar kein Österreicher mehr. Er wäre dann ent-österreichert, ein unbestimmtes, wesenloses Individuum, letztendlich neutralisiert. Diese ganz bestimmten, wie ich sie nennen will: austrolegendären Sachen, sind maßgebliche Bausteine unseres nationalen Selbstgefühls, das hinausreicht bis in die Weiten der Welt. Es sind die wahren Wappen Österreichs.

Almdudler. Foto: Dan Taylor, https://www.flickr.com/photos/dtnyc383/4250486833

Almdudler. Foto: Dan Taylor, https://www.flickr.com/photos/dtnyc383/4250486833

Flüssige Wappen

Was verhindert das Gefühl, verloren irgendwo im 21. Jahrhundert herumzusitzen besser und verleiht einem eingehender die Gewißheit, ein Österreicher zu sein, als Almdudler-Limonade, aus dem Achterlglas getrunken?

Schon in der Kontur der Almdudlerflasche zeichnet sich sowohl die klassische Säule ab – der Almdudler als Grundfeste des Austrolegendären -, als auch, zukunftsweisend, der Umriss einer Rakete. Wenn Österreich einmal ein eigenes Raumfahrtprogramm auflegen wird, werden die Shuttle-Kontrukteure im Süden der Stadt auf die vollendete Form der Almdudlerflasche zurückgreifen können. Vielleicht kann man Almdudler sogar als Raketentreibstoff verwenden. Wo, auf jeden Fall, bliebe das typisch Österreichische an einem heißen Sommertag, auf einer Landpartie oder im Schwimmbad, ohne jenes dezent urinfarbige picksüße Getränk mit der folkloristischen Etikettengrafik? Wo wäre das Legendäre? (In der Flasche ist es nicht).

Und nicht nur das G’siff selbst, schon der Name eint alles Österreichische. Almdudler ist die limonadenhafte Quintessenz landesväterlicher Güte. Ich bin in einer jener Stadtrandsiedlungen an der Grazer Peripherie aufgewachsen, in der die Einfamilienhäuser und die darin wohnenden Einfamilien von einander nicht zu unterscheiden sind. Ab und zu, wenn der Gatte einen Karriereschritt gemacht hatte, versuchte dann eine der Gattinnen das neue soziale Niveau abgrenzend zum Ausdruck zu bringen, beispielsweise indem sie anfing, hochdeutsch zu reden. Ich war einmal als Kind gerade beim Kaufmann, als eine Frau dezidiert und nachdrücklich „UND GEBEN SIE MIR BITTE EINE FLASCHE ALPENTUTTLER“ bestellte. Worauf es fünf Sekunden ganz still war beim Kaufmann, anschließend alle zu lachen anfingen und die Frau wieder aufhörte, hochdeutsch zu reden. Vor dem Almdudler sind alle gleich.

Manchmal ist es nur eine Kleinigkeit in der Betonung, die aus einem flüchtigen, internationalen Phänomen plötzlich eine wurzeltief regionale Sache macht. Ich bin mit einem Tiroler befreundet, der mir vor ein paar Jahren immer wieder begeistert von seiner damaligen Lieblingsmusikgruppe vorschwärmte, den Bai Südtirolers. Da er sonst hauptsächlich Gary Glitter hörte, war ich über seine Leidenschaft für Volksmusik erstaunt, aber bei Tirolern weiß man ja nie. Es dauerte noch Wochen, bis ich draufkam, dass die Band, die er meinte, die Bay City Rollers waren.

Austrolegendäre Feststoffe

Von den Almdudler-Flüssigkeiten zu den austrolegendären Feststoffen. Hier muss augenblicklich die Mannerschnitte erwähnt werden. Ungeachtet anderer Kriterien gehört die Mannerschnitte zu den wenigen Konsumgegenständen, die sich heutzutage noch erfolgreich auspacken lassen, ohne dass man dazu Brechstangen verwenden oder zerbrochene Fingernägel und zerrissene Verpackungen in Kauf nehmen muß. Das Reiß-Zipferl und der rote Aufreißfaden funktionieren seit eh und je problemlos. Auch die Teilung der Schnitten-Tafel in leicht abzubrechende Einheiten, die eigentliche Mannerschnitte, ist kaum zu verbessern. Die Mannerschnitte ist mundgerecht portioniert, außerdem ist die Reklame lustig („Manner mag man eben“).

Überhaupt sollte der Mannerschnitte, in der Art des deutschen Bier-Reinheitsgebots, endlich die Qualität einer österreichischen Maßeinheit zuerkannt werden: Urmeter für riegelhafte Süßigkeiten. An deren neueren Erscheinungsformen, den Mars- und Bounty-Klons, erstickt man oft halb, weil sie undimensioniert sind. Jedenfalls hat man von den Fingern bis zu den Zähnen alles voll mit aufgeweichter, honigzäher Schokolade. – Obwohl auch ich finde, dass es zu den raffinierten Genussformen gehört, eine Packung Mannerschnitten so lange in der Hosentasche zu tragen, bis die Schokoladeschichten weich geworden sind, um dann jeweils eine schokobeklebte Schicht nach der anderen von der Schnitte abzuziehen und in den Mund zu schieben. Wer fern der Heimat, im Lager IV am Nanga Parbat, im brasilianischen Regenwald oder im Nachtleben von Manhattan, eine Packung Mannerschnitten im Proviant findet, der ist, wenn’s ihm davon warm um Herz und Magen wird, ein rechter Österreicher.

Natürlich kann man mit diesen Legenden-Beispielen für jeden Aggregatzustand bei weitem nicht dem Reichtum und den Verzweigungen der österreichischen Mythologie der Dinge gerecht werden, die an Fülle dem griechischen Pantheon in nichts nachsteht. Vom Altertum her betrachtet, erhöht sich beispielsweise auch das profane Gehäuse einer Fleischhauerei zum tempelhaften Bau, da in seinem Inneren ein anderer austrolegendärer Kult gepflegt wird: Die Anfertigung von Leberkässemmeln.

Freibad Straßgang, Foto: Tobias Abel https://www.flickr.com/photos/lennox_mcdough/5017159984/

Freibad Straßgang, Foto: Tobias Abel https://www.flickr.com/photos/lennox_mcdough/5017159984/

Abseits von Genussmitteln

Aber nicht nur Genussmittel sind es, die uns festigen in unserem Österreichersein. So prosaische Dinge wie Funderplatten, das unwirkliche Grün von Palmersgeschenkmünzen oder Blunaflaschen, das Gelb der Straßenmarkierungen, Stangendinge wie Olla oder Soletti, und der wundervolle Duft von Matadorsteinen, mit denen früher niemand sonst auf der Welt gespielt hat als kleine Österreicher – diese Dinge sind es im Wesentlichen, die jene Mischung aus Eigenarten und gemeinsamen Erinnerungen in der Seele formen, jene legendäre Landschaft, welche Österreich heißt.

Wenn ich daran denke, wie ich einmal eine stark abfallende Straße hinunter einem Passanten mit einem Steyr-Waffenfahrrad über die Zehen gefahren bin, werde ich heute manchmal sentimental, und zwar einzig, weil es ein Steyr Waffenfahrrad war. Wäre es, sagen wir: ein superleichtes Peugeot Sportrad gewesen, ich hätte die Episode schon vergessen.

Oder ich wittere wieder den wilden Duft von Semperit-Luftmatratzen, oben blau, unten rot, die auf der Liegewiese im Freibad in Straßgang ausgebreitet sind und langsam heißer und heißer werden. Da ist der unverwechselbare Basisgeruch von leinenverstärktem Gummi, dazu ein Touch von Piz Buin von allen Körpern rundum, ein bisschen Vanilleduft von Fünfschilling-Eskimoeislutschern und eine vage Silan-Aura aus vielen, vielen Frotteehandtüchern. Sie müssen gar nicht rotweissrot sein. Man weiß auch so: Diese Mischung aus Gerüchen ist ein besonderes Parfum.

Text: Peter Glaser

Peter Glaser wurde 1957 in Graz geboren und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er bloggt für die Neue Zürcher Zeitung (http://glaserei.blog.nzz.ch) und befasst sich als Journalist mit der digitalen Welt. Für seine Erzählung “Geschichte von Nichts” wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

Mehr über Peter Glaser im Portrait