Grazoutside

Die Schöne vor dem Süden

Ich hör gern das Graz
wies wächst
(Oskar Pastior)

Jede Stadt, die eine sein will, hat einen erhöhten Ort, von dem aus man sie überschauen kann. So kennen wir aus Filmen den Blick von den Parkbuchten am Mulholland Drive aus über das nächtlich leuchtende Straßenraster von Los Angeles. Oder Wien, Weltstadt einer versunkenen Welt, das sich vom Kahlenberg in seinen weithingestreckten Gegebenheiten zeigt. Graz hat mehrere solcher Orte, und Graz ist schön und doch eine kleine Stadt.

Graz

Eine Überschau gibt die Ries, ein Hang, an dem sich die gleichnamige aus der Oststeiermark hereinfließende Straße zu einem Ausblick über Graz öffnet, über den Osten der Stadt mit seinen Villen und dem alten Grün hin an den Saum zur Innenstadt. Da liegt eine alte Stadt im Vorland der Alpen in einer Bucht aus Anhöhen. Der Blick geht über die Stadt nicht nur hinaus in das dunstige Blau der hinsinkenden Bergzüge, sondern an neue Horizonte und hinaus in das silbrige Bildschirmlicht der Moderne.

In einer scharfen Kehre die Ries abwärts geht es in eine feine Gegend. Weit gefasst zwischen Ruckerlberg, Leechwald und dem Rosenhain haben die Bezirke Geidorf und Leonhard die Ehre. Auf dem Friedhof St. Leonhard ruhen große Titel der k.k. Monarchie selig. Graz galt schon damals als gerne gewählter Ruhesitz. Dann langt man am Glacis an, dem früheren Vorfeld des Festungswerks der inneren Stadt, einer Grenze. Und Grenzen sind ein bevorzugter Aufenthaltsort des Grazer Geistes. Anschauungsgrenzen. Alte, nur noch ahnbare Grenzen.

Am Glacis wurde Ende des 18. Jahrhunderts der Stadtpark eingerichtet. Er ist nach wie vor die grüne Mitte der Stadt. Man mag seine versteckten Plätze suchen, die Wetterstation, den Ginko-Baum, oder im Herbst unter den farbleuchtenden Kastanien gehen und ein Dichter werden, ob man nun will oder nicht. Denn wie aus Papieren raschelt aus dem Laub und fasst einen leise Poesie an, also der Mut zur Betrachtung.

Ein schöner Ort zum Durchfahren

Graz ist ein Ort zum Durchfahren, aber ein schöner. Solche Orte sind nur da, um durchquert zu werden. Eine sonderbare Faszination geht von ihnen aus. Graz ist ein Ort wie ein Bahnhof, ein Hafen, eine Grenzstation. Mancher verbringt Stunden in dem Reiz von Ankunft und Abreise, absichtslos und voller Fernweh. Nirgendwo scheint es leichter, ein Gefühl über das Rauschen des Alltags hinaus steigen zu lassen. Hier bin ich, auf diesem Splitter Erde, ein Nichts unter den Sternen. Graz.

Am Fuß der Altstadt teilt der Opernring, der unter Kastanien hinführt, zwei zentrale Plätze, zur Herrengasse hin den Platz Am Eisernen Tor und südlich den Jakominiplatz, den Ausgangspunkt der sternförmig in alle Stadtteile ausstrahlenden Bus- und Straßenbahnverbindungen. So vieles ist alt an dieser Stadt, dass Modernität manchmal regelrecht außerirdisch anmutet. So überragt den Jakominiplatz nun eine Flotte gelber Weltraumhubschrauberlaternen.

Aber auch hier Altes und Neues nebeneinander – die alten, neuen Telefonzellen aus den siebziger Jahren, fußfrei, alusilbern; daneben neue, die nur noch über Rückwand und Dächlein verfügen. Auch Straßenbahn- und Bushaltestellen sind im Lauf der Zeit fragiler und transparenter geworden; im Gegenzug haben moderne Autos meist abgetönte Scheiben, die den Insassen einen Vorteil des Sehens vor dem Gesehenwerden verschaffen. Diese Dinge gibt es überall im modernen Europa, aber die Gelassenheit zu finden, aus der sie sich so betrachten lassen, fällt in Graz leichter als in anderen Städten. Vielleicht gibt es hier auch deshalb so viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller, so viele Freunde der Aufmerksamkeit.

Stadtparkbrunnen und Forum Stadtpark, Foto: Alois Staudacher https://www.flickr.com/photos/alois_staudacher/10115971894

Stadtparkbrunnen und Forum Stadtpark, Foto: Alois Staudacher https://www.flickr.com/photos/alois_staudacher/10115971894

Es ist diese lebendige Stadt, „in der ein Frühling gedieh, der sich nun Herbst nennt”, wie Alfred Kolleritsch, Nestor der Grazer Autorenversammlung, die Anfänge des „steirischen herbst” benennt. 1960 sollte das seinerzeit beliebte Café Stadtpark abgerissen werden und einer Gruppe junger Künstler gelang es, die heute international renommierte Stätte unter dem Namen „Forum Stadtpark” zu erhalten. Im Frühjahr 2000 wurde das Forum nach zweijährigem Umbau in einer frischen, gläsernen Leichtigkeit neu eröffnet.

Das Bittere an Graz ist, dass es so klein ist, dass in den schöpferischen Metiers immer nur jede zweite Generation zum Zug kommt. Das Schicksal von uns Nach-Achtundsechzigern zum Beispiel war es, einer immens kreativen Generation nachzufolgen, der Grazer Autorenversammlung im Urzustand. Deren Angehörige hatten längst alle jene Stellen besetzt, an denen sich in Graz mit einem künstlerischen Dasein auch nur das geringste Dasein bestreiten lässt, als wir gerade aufwachten ins Leben.

Es gibt in einer solchen Situation niemanden, um sich zu beklagen, und es gibt nur wenige Möglichkeiten. Man könnte einen der Etablierten erschießen, in der Hoffnung, sich einen freien Platz zu erobern, aber das ist einem richtigen Österreicher viel zu anstrengend. Oder man wird stadtbekanntes Original und Alkoholiker. Oder wird Sachbearbeiter in der Gebietskrankenkasse mit einem unerfüllten Lebenstraum.

Oder man emigriert. Es ist das Pusteblumen-Prinzip. Wir, einige von uns bringen das, was Musil ironisch das Weltösterreichertum genannt hat, tatsächlich hinaus in die Welt; diejenigen von uns, die an ihrer Identität als Österreicher festhalten. Einer meiner alten Freunde aus Graz, der nach Frankfurt am Main ausgewandert ist – wenn man dieses lebensgroße Wort auf so etwas schon anwenden darf -, hat sich als erstes die Haare schwarz gefärbt, nur noch spitze Schuhe getragen, nach kurzer Zeit hessischen Dialekt gesprochen und mir erklärt, dass er immer schon Italiener sein wollte.

Vom Stadtpark, der Altstadt und der Mur eingefasst, hat nun die zentrale Erhebung von Graz stattzufinden, der Schlossberg. „Gradec” nannten die Slowenen schon vor Jahrhunderten die Festung auf dem 437 Meter hohen Dolomitfelsen – „kleine Burg”. 1809 durften die Franzosen, denen es nie gelungen war, sie einzunehmen, die Festung als ein Ergebnis des Schönbrunner Friedens schleifen. Übrig blieben Basteien, eine Zisterne – der Türkenbrunnen -, der Glockenturm mit einer mächtigen Glocke namens „Liesl”, die ehemaligen Kasematten, die heute als Freilichtbühne dienen, und der Uhrturm, das Wahrzeichen der Stadt.

Mit der Schlossbergbahn läßt sich der Tourist, der auch ich inzwischen geworden bin, vom Murkai aus in Panoramahöhe transportieren. Eine andere Möglichkeit sind die 260 Stufen der Schlossbergstiege, die von einem schmalen Platz in der Sackstraße, dem Palais Meran gegenüber, eine Felswand hochführt. Vom Fuß der Schlossbergstiege aus hat man einen Stollen durch den Fels getrieben und kann jetzt auf die andere Seite hindurchsehen, ein elf Meter hoher „Dom im Berg” öffnet sich in dem Stollen und ein leuchtender Lift bringt Besucher hinauf.

„Eine Aussicht wie die von dem Schlossberg herunter glaube ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehabt zu haben”, befand der Dichter Friedrich Hebbel 1847 nach Besteigung desselben. Tatsächlich bietet sich ein Blick über die größte im deutschsprachigen Raum erhaltene mittelalterliche Altstadt. In einem verwitterten roten Spektrum leuchten die warmen Töne der Ziegeldächer, sie variieren nach Alter, und Firste und Giebel stehen nicht geometrisch, sondern gewachsen. Zwischendrin ein graues Riff: das Rathaus.

Aus einem Fenster im ersten Stock des Rathauses schaut eine Webcam, die Neugierigen aus aller Welt übers Internet einen schwenkbaren Blick auf den Hauptplatz von Graz und eine Traditionseinrichtung gestatten: die Weikhard-Uhr vor dem gleichnamigen Juweliergeschäft, der Treffpunkt schlechthin, Mutter aller roten Punkte auf dem Stadtplan.

Der Treffpunkt in Graz schlechthin: die Weikhard Uhr. Foto: Tobias Abel https://www.flickr.com/photos/lennox_mcdough/6330861449/in/photolist-aDrjxB-66ivyd-d9NXHp-d9Pdv7

Der Treffpunkt in Graz schlechthin: die Weikhard Uhr. Foto: Tobias Abel https://www.flickr.com/photos/lennox_mcdough/6330861449/in/photolist-aDrjxB-66ivyd-d9NXHp-d9Pdv7

Die Sprache, weich, nachgiebig, ein Geschmack von schmelzender Schokolade. Da ist aber auch eine Ahnung von Abgrund, etwas, das man riechen kann, wie die Nähe eines Meers, das noch nicht zu sehen ist, einer Steilküste, in dieser Art, sich auszudrücken. Der obligate Abschiedsgruß „Babaa” ist ein assimiliertes Überbleibsel aus der Nachkriegszeit, in der die Engländer in Graz stationiert waren. Babaa ist ein eingeösterreichertes Byebye.

Neben der Tramway gibt es eine Reihe von Busverbindungen, von denen die aus den südlichen Außenbezirken in die Innenstadt führende lange Jahre O-Bus hieß. Die Bezeichnung kam ursprünglich von „Oberleitungs-Bus”, die elektrischen Oberleitungen wurden allerdings schon Ende der sechziger Jahre abgeschafft und Dieselmotorbusse eingesetzt. Die Bezeichnung blieb. Manchmal ändern sich die Zeiten, wir sehen es an Dingen wie dem Übergang von der LP zur CD und dass die Geschäfte, in denen man die nun schwindenden Tonträger kaufte, immer noch Plattenländen heißen. So ist Graz: LP, obwohl es schon CDs gibt. Schöner Klang, keine Frage.

Spätgotische, barocke und biedermeierliche Fassaden dominieren. Am Steireregg, im Anstieg vom Hauptplatz aus in die Sporgasse nach dem Schlossberg hoch, hängt noch der Schriftzug des ehemaligen Café Nordstern, gegenüber das Luegg mit seinen Arkadengängen und einer opulenten Stuckfassade, als wäre hier eine Art südländischer Hanse zu Haus gewesen. Aus einer Oberlichte des Palais Saurau in der Sporgasse hängt eine Türkenfigur mit Turban hinaus in die Gasse, nach der Legende einer aus dem Gefolge des Feldherrn Ibrahim Pascha, der 1532 die Stadt belagerte. Der Mann ist in der Luke steckengeblieben, nachdem den siegesgewiss tafelnden Türken eine Kanonenkugel der Grazer ins Essen geflogen war, habe ich in der Schule gelernt.

Es gibt in Graz einen Ort, der fast an eine moderne Stadt erinnert: dort, wo der „Gürtelturm” steht, inzwischen mit seinen runden Siebzigerjahre-Ecken auch schon wieder modern geworden, gibt es die großen, blauen Schilder über der Kreuzung, auf denen „Flughafen“, „Slowenien“, „Italien“ und all das steht, was nach weiter Welt aussieht, und es gibt nachts das orange Licht der Natriumdampflampen von den hohen, eleganten Peitschenmasten.

Wir sind in jenem Süden, in dem eine gewisse Lust am Vergehen der Zeit empfunden wird. Verziert durch einen Kaffee mit ausdrücklicher Betonung auf der letzten Silbe und Blicke in den sich vorbeibegebenden Verkehr geht man im Kaffeehaus Fragen von Tiefe oder gewöhnlicher Leichtigkeit nach. Der Hang zum Müßigen ist zu spüren, immer noch, obwohl es kaum noch Kaffeehäuser gibt. Während das Warten in Arztpraxen, Flughafenterminals undsoweiter ein durch Zwecke verunreinigtes Ausharren darstellt, ist das Kaffeehaussitzen  in Graz, und natürlich auch das Sitzen in anverwandten Etablissements, der pure, unverbrüchliche Aufenthalt im Diesseits.

Das Warten in seiner nordeuropäischen Form ist nicht Entspannung. Es ist die dunkle Seite des Müßiggangs. Arbeit ohne Tätigkeit. Nicht zuletzt ist das Warten eine Frage der Mentalität. Je näher man an Österreich kommt, desto mehr wandelt sich das, was man erst noch unwohl als Verweilzwang ansieht, in Lebensqualität. Graz ist ruhig, ein bisschen altmodisch, und doch ist es die Schöne vor dem Süden.

Text: Peter Glaser

Peter Glaser wurde 1957 in Graz geboren und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er bloggt für die Neue Zürcher Zeitung (http://glaserei.blog.nzz.ch) und befasst sich als Journalist mit der digitalen Welt. Für seine Erzählung “Geschichte von Nichts” wurde er 2002 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.

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